Kellers Guadeloupe-Tagebuch

Ich hatte den Sieg schon vor Augen

Von Hermann Keller

Foto zu dem Text "Ich hatte den Sieg schon vor Augen"
Hermann Keller (rechts) und seine Teamkollegen bei der Tour de Guadeloupe | Foto: Embrace The World

07.08.2022  |  (rsn) - Hallo zusammen, heute stand nach dem gestrigen Auftaktzeitfahren die erste Straßenetappe der Tour der Guadeloupe (2.2) an. Diese wurde auf dem östlichen Inselteil über 156 Kilometer ausgetragen. Schon auf dem Weg zum Start – die sieben Kilometer ins Zentrum der Inselhauptstadt Point-a-Pitre haben wir auf dem Rad zurückgelegt – sind wir das erste Mal so richtig nass geworden. Nach einer kurzen Neutralisation wurde der Start freigegeben und nach einigen Attacken konnten sich zwei Fahrer absetzen.

Der erste Teil der Etappe war recht stressig, da alle noch sehr frisch sind und teilweiße Lücken im Feld sehen, wo keine sind. Das Tempo war sehr hoch, die Straßen teilweise nass und immer mal wieder ging es bei ordentlichem Ostwind auf die Windkante. Wirklich absetzen konnte sich aber niemand, was mir Hoffnung gab. Mein Plan war, auf die einzige Bergwertung des Tages zu fahren, um das Bergtrikot morgen tragen zu dürfen. Kurze Zeit später machten sich dann aber doch zwei Sportsfreunde auf die Socken und zogen von dannen.

Die beiden wurden dann aber schon nach ca. der Hälfte der Etappe gestellt, sodass “mein“ Bergtrikot zum Greifen nahe war. Als ich diesen Gedanken vollendet hatte, waren schon wieder zwei Kollegen enteilt, die dann leider auch die Bergwertung unter sich ausmachten. Der Fahrer, der die Bergwertung gewann, ließ allerdings so viele Körner liegen, dass er kurze Zeit später schon wieder zurück ins Feld kam, das bis dahin von der Mannschaft des Führenden (Guillaume Dauschy / Premier Tech, d. Red.) kontrolliert wurde.

Von dem anderen fehlte aber weiterhin jede Spur und als uns dann gut 30 Kilometer vor dem Ziel immer noch knapp zwei Minuten Vorsprung kommuniziert wurden, begann sogar das Gelbe Trikot, sich an der Nachführarbeit zu beteiligen. 30 Kilometer vor dem ziel reihte sich dann auch das italienische Kontinental-Team Corratec mit ein. Wir dachten uns schon, dass dies passieren könnte, da sie mit dem Serbischen Meister (Dusan Rajovic, d. Red) einen sehr schnellen Sprinter in ihren Reihen haben. Das Tempo war sehr hoch und somit ging ich fest von einem Massensprint um den Sieg aus.

Die Zielanfahrt, welche wir uns zuvor bei einer ersten Passage angucken konnten, war leicht wellig mit ein paar Kurven auf schmaleren Straßen. Leider war ich hier auf mich allein gestellt, da die Kollegen entweder Defekte hatten, noch nicht perfekt akklimatisiert waren, oder wir uns einfach verloren haben. So musste ich versuchen, mich irgendwie durchzuwursteln, und nutzte in einer Schikane die Gunst der Stunde und schob mich direkt hinter den Sprinter von Corratec.

Nach der letzten 90 Grad-Kurve gut 400 Meter vor dem Ziel wurde der Sprint früh eröffnet – zu meiner Freude. Der Serbe fuhr mir ein perfektes Leadout. Als ich antrat, um vorbeizuziehen, hatte ich den Sieg schon vor Augen, jedoch leider nur für kurze Zeit da ich mit freier Sicht dann auch den sich über seinen Solosieg freuenden verbleibenden Ausreißer (Florian Rapiteau, d. Red.) sah. Vier Sekunden konnte er ins Ziel retten.

Der Enttäuschung über den verpassten Sieg war bei dem serbischen Kollegen aber deutlich größer als bei mir. Sogar so groß, dass ich beim Vorbeifahren aus den Augenwinkeln sah, wie er sich hinsetzte und einfach aufhörte zu treten. Ich gewann den Sprint des Feldes und wurde somit Zweiter, der Serbe wurde Dreißigster. Ein schönes Ergebnis, aber natürlich hätte ich lieber gewonnen – und das Bergtrikot gehabt! Ganz klar muss ich aber sagen, nach einem 50-Kilometer-Solo ist es ein hochverdienter Sieg für den französischen Sportsfreund.

Statt dem Bergtrikot darf ich stellvertretend morgen im Trikot des aktivsten Fahrers starten. Zu diesem kam ich wie die Jungfrau zum Kind aufgrund folgender Konstellation: Der Solosieger, der damit ausgezeichnet wurde, trägt das Grüne Trikot. Die Schultern seines Fluchtkollegen, der es vermutlich sonst bekommen hätte, sind auch schon durch das Bergtrikot belegt. Und zumindest einer der beiden ersten Ausreißer trägt das orangefarbene Trikot der Zwischensprints.

Eine böse Überraschung erlebten wir noch nach der Siegerehrung. Aus dem Augenwinkel sahen wir den Bus der Fahrer und den Transporter mit den Rädern davonfahren. So blieb uns nichts anderes übrig, als nochmal in unsere dreckigen und nassen Klamotten zu schlüpfen und die 30 Kilometer zurück zum Hotel auf dem Rad zurückzulegen – natürlich wieder im Regen.

Morgen erwartet uns die erste Bergankunft. Hier werden die “Flachlandspezialisten“, also Fabian, Thomas und ich versuchen unsere “Bergfraktion“ (Oli, Scott und hoffentlich Marcel) gut in den Schlussanstieg hineinzufahren. Wir sind auf den ersten Schlagabtausch der Aspiranten auf den Gesamtsieg gespannt und hoffen natürlich auch, möglichst weit vorne mitmischen zu können.

Vom Bergtrikot werde ich mich dann wohl auch endgültig für diese Ausgabe der Tour de la Guadeloupe verabschieden müssen, da die Schlusssteigung aus drei Bergwertungen der Kategorien drei, zwei und eins besteht. Ich denke, vor der ersten Bergwertung der 3. Kategorie sind meine Segel gestrichen, gefaltet und eingepackt.

Bis morgen
Hermann

Mehr Informationen zu diesem Thema

15.08.2022Im Schlussanstieg musste sogar das Auto geschoben werden

(rsn) - Wie gestern schon erwähnt, ging es heute (Sonntag) nach kurzer Fahrt direkt in den Passanstieg zum Vulkan. Jeder wusste, dass die heutige Etappe entscheidend sein würde im Kampf um das Gesam

13.08.2022Der Bus wird von Tag zu Tag leerer

(rsn) - Als wir gestern einschliefen, hatten wir uns schon immens gefreut, etwas länger schlafen zu können, da der Bus erst um 9 Uhr abfahren sollte. Dieser Bus transportiert übrigens von Tag zu Ta

12.08.2022Gruppetto-Bildung im Stile eines Puppenspielers

(rsn) - Marcel Peschges scheint einfach ein Händchen für spektakuläre Starts bei TV-Beteiligung zu haben. Im Höhenprofil war es nicht so ganz deutlich eingezeichnet, aber auch heute ging es wieder

11.08.202270 Kilometer vor dem Ziel zog ich ein Parkticket

(rsn) - Heute standen 148 schwere Kilometer auf dem Programm. Wie gestern erwähnt, war der Plan, jemanden in der Spitzengruppe unterzubringen, um dann nach dem Anstieg zum Vulkan noch einen Helfer f

10.08.2022Was ist schon Paris-Roubaix im Vergleich zur Tour de Guadeloupe?

(rsn) - Das Tolle an Rundfahrten wie dieser sind auch der rege Austausch mit anderen Teams und die Begegnungen mit alten Bekannten. So fährt Matias Fitzwater, ein Neuseeländer, der 2019 mit uns als

09.08.2022Zu erschöpft? Von wegen!

(rsn) - Wieder einmal klingelte um 6 Uhr der Wecker, allerdings war es heute der erste Morgen, an dem ich mich nochmal auf die andere Seite gedreht habe und erst später zum Frühstück kam. Auch am B

08.08.2022“Da wird niemand mehr kommen, fahr´ einfach!“

(rsn) - Wie jeden Morgen klingelte auch heute um 6 Uhr der Wecker und wir begaben uns auf zum Frühstück. Danach ging es dann zum Verladen der Räder – im strömenden Regen. Somit wurden wir auch

06.08.2022Wir sind nicht nur zum Baden gekommen

(rsn) - Hallo zusammen, ich darf euch die nächsten Tage von unseren Erlebnissen bei der Tour Cycliste International de la Guadeloupe (2.2) berichten. Die Tour wird über zehn Etappen und insgesamt 1

Weitere Radsportnachrichten

10.05.2024Nys schnappt Buchmann ersten Saisonsieg vor der Nase weg

(rsn) – Emanuel Buchmann (Bora – hansgrohe) hat auf der Königsetappe der 45. Tour de Hongrie (2.Pro) denkbar knapp seinen ersten Saisonsieg verpasst. Der Deutsche Meister kam nach 182,7 Kilometer

10.05.2024Bredewold baut makellose Itzulia-Serie von SD Worx aus

(rsn) – Mischa Bredewold hat ihrem Team SD Worx – Protime einen grandiosen Auftakt zur 3. Itzulia Women (2.WWT) beschert. Die Europameisterin aus den Niederländerin entschied die 1. Etappe über

10.05.2024Die Startzeiten des ersten Giro-Zeitfahrens

(rsn) - Julius van den Berg (dsm-firmenich - PostNL) eröffnet um 13:10 Uhr das erste der beiden Einzelzeitfahren des 107. Giro d’Italia. Auf dem Programm der 7. Etappe stehen 40,6 Kilometer von Fol

10.05.2024Bora-Profi Benedetti: “Bin froh, dass Cavendish gewonnen hat“

(rsn) – Sam Welsford (Bora – hansgrohe) konnte von Glück reden, dass der rabiate Körpereinsatz, mit dem sich sein Konkurrent Dylan Groenewegen (Jayco – AlUla) im Finale der 2. Etappe der Ungar

10.05.2024Radsport live im TV und im Ticker: Die Rennen des Tages

(rsn) – Welche Radrennen finden heute statt? Wo und wann kann man sie live im Fernsehen oder Stream verfolgen? Und wo geht´s zum Live-Ticker? In unserer Tagesvorschau informieren wir jeden Morgen

09.05.2024Giro-Etappensieg verpasst, aber Alaphilippe zeigt alte Klasse

(rsn) – Der ganz große Coup ist Julian Alaphilippe (Soudal – Quick-Step) auf der 6. Etappe des Giro d´Italia über die weißen Schotterstraßen der Toskana nicht gelungen. Doch der franzöische

09.05.2024Kampf gegen die Uhr mit schwerem Finale

(rsn / ProCycling) – Zum ersten Mal seit 2017 gab es am Eröffnungswochenende der Italien-Rundfahrt kein Einzelzeitfahren. Trotz der kniffligen Etappe rund um Turin, der Ankunft in Oropa und der Sc

09.05.2024Pogacar: “Hat Spaß gemacht, aber ich bevorzuge Strade Bianche“

(rsn) – Auf der Strade-Bianche-Etappe des 107. Giro d’Italia hielten die Favoriten die Beine still. Stattdessen dominierten auf den 180 Kilometern durch die Toskana inklusive dreier Gravel-Sektore

09.05.2024Flèche du Sud: Etappenplatzierung kostet Teutenberg Führung

(rsn) - Einen Tag nach seinem Auftaktsieg beim Flèche du Sud (2.2) musste Tim Torn Teutenberg (Lidl - Trek Future Racing) seine Gesamtführung wieder abgeben. Da es bei der fünftägigen Rundfahrt d

09.05.2024Nächster Sieg: De Lie zeigt auch beim Circuit de Wallonie auf

(rsn) - Die deutschen und österreichischen Kontinental-Teams haben sich beim hochkarätig besetzten Circuit de Wallonie (1.1) achtbar aus der Affäre gezogen. Beim Sieg des Belgiers Arnaud De Lie (Lo

09.05.2024Highlight-Video der 6. Etappe des Giro d´Itala

(rsn) – Pelayo Sánchez (Movistar) hat auf der 6. Etappe des 107. Giro d’Italia (2.UWT) den größten Erfolg seiner Karriere eingefahren. Der 24-jährige Spanier setzte sich über 180 hügelige Ki

09.05.2024Sanchez spart Kraft und schlägt Alaphilippe im Sprint

(rsn) - Pelayo Sanchez (Movistar) hat die 6. Etappe des 107. Giro d’Italia von Viareggio nach Rapolano terme über 180 Kilometer und drei Schottersektoren gewonnen. Im Dreiersprint war der Spanier s

RADRENNEN HEUTE

    WorldTour

  • Giro d´Italia (2.UWT, ITA)
  • Radrennen Männer

  • Tour de Hongrie (2.Pro, HUN)