Nach dem Giro der Metamorphosen

Im Radsport 4.0 ist Wandlungsfähigkeit gefragt

Von Tom Mustroph

Foto zu dem Text "Im Radsport 4.0 ist Wandlungsfähigkeit gefragt"
Team Ineos Grenadiers imponierte beim Giro d´Italia durch seine Vielseitigkeit. | Foto: Cor Vos

26.10.2020  |  (rsn) - Große Rennställe können alles. Das ist eine der markantesten Erkenntnisse dieses 103. Giro d'Italia. Galt es viele Jahre als unumstößliche Radsportweisheit, dass ein Team sich vor allem bei Grand Tours am besten auf nur ein Ziel konzentrieren sollte, und dafür auch Jahre lange Entwicklungsarbeit einplanen musste, so zeigten in dieser Pandemiesaison Tour und vor allem Giro eine überraschend große Variabilität.

Team Sunweb etwa, in die Tour noch ohne Kapitän gegangen und mit der Taktik der abwechselnden Angriffswellen der Etappenjäger überaus erfolgreich, präsentierte sich beim Giro als ganz klassischer Grand-Tour-Rennstall. Alle Kräfte für den Kapitän hieß es - so lange zumindest Wilco Kelderman selbst die Kräfte hatte, diese Rolle auszufüllen. Danach erhielt Jai Hindley den Freifahrtschein. Zuvor stellte aber auch der Giro-Zweite sich ohne leisesten Zweifel in den Dienst des Niederländers.

Die Transformation von Grand Tour-Team zur Etappenjäger-Truppe vollzog Team Ineos Grenadiers sogar inmitten einer Rundfahrt - und transformierte sich dann auch wieder zurück. Die verbliebenen sieben Fahrer konfigurierten sich nach dem Ausfall ihres Kapitäns Geraint Thomas noch schneller - und noch erfolgreicher - in eine Schar von Fluchtgruppenspezialisten um, als nach Bernals Ausfall auf Frankreichs Straßen geschehen.

Filippo Ganna, der neue Zeitfahrgott im Peloton, holte neben seinen drei Siegen im Kampf gegen die Uhr auch einen Tageserfolg als Solist am Berg. Seine Performance dort - nur möglich, weil eben Kapitän Thomas längst aus dem Rennen war - bescherte dem Italiener das Luxusproblem, bei jedem zweiten Interview gefragt zu werden, ob er nun der neue Cancellara oder, wegen der Kombination aus Zeitfahrpower und Überlebensfähigkeit am Berg, nicht lieber der neue Indurain werden wolle.

Auch Jhonathan Narvaez holte einen Tagessieg als Ausreißer für das britische Team, bevor dann die stetige Aufholjagd von Tao Geoghegan Hart in der Gesamtwertung zur Rückverwandlung in die Klassement-Formation führte. Ganna riss nicht mehr aus, sondern ackerte für Geoghegan Hart. Rohan Dennis' Beschleunigungen am Stilfser Joch und in Sestriere hätten - in der Ineos-Konfiguration vom Mittelteil des Giro - sicher jede Ausreißergruppe fern von den Verfolgern gehalten und auch ihm den einen oder anderen Tagessieg beschert. In den letzten Tagen des Giro war die Aussie-Power aber der Treibstoff, der Geoghegan Hart in Rosa brachte. Gleich zwei Blitzmetamorphosen binnen einer Rundfahrt - und extrem erfolgreich zugleich.

Die Vielseitigkeit gibt den Ausschlag

In die Kategorie der neuen Radsportchamäleons muss man auch Deceuninck - Quick-Step einordnen. Das gelernte Klassiker- und Sprinterteam trat zwei Wochen lang sehr souverän als Beschützer des rosa Debütanten Joao Almeida auf.

Nico Denz, einer der Recken im letztlich nur halb erfolgreichen Sunweb-Zug, erklärte die Fähigkeit zur Blitzverwandlung der Teams gegenüber radsport-news.com so: "Das sind alles Klassefahrer in den Teams. Sie haben die Fähigkeit, auf eigene Rechnung zu fahren, können sich aber auch komplett in den Dienst der Teams stellen."

Das stimmt sicherlich. Aber auch Rennställe in früheren Zeiten verfügten oft über eine ganze Handvoll Klassefahrer. Da galt dann aber das entweder oder: Entweder ein bissiges "Wolfsrudel" im Stile Quick-Step, das die Klassiker dominierte, die durchaus talentierten Klassementfahrer wie Rigoberto Uran oder Daniel Martin aber oft recht allein ließ. Das “Oder“ lieferten dann die Marken US Postal und Sky. Wer da nicht Boss war, musste eigene Karriereambitionen aufgeben, damit das jeweilige Alphatier die gelben Leibchen nur so einsammeln konnte.

Die Versuche, zwei Ziele zugleich zu verfolgen, gab es natürlich auch. Mark Cavendish durfte eine Weile lang eine - zugegeben sehr erfolgreiche - Nebenrolle neben Bradley Wiggins ausüben. Bora - hansgrohe versuchte mit Peter Sagan und Emanuel Buchmann bei der Tour und jetzt beim Giro mit Sagan und dem Duo Rafael Majka & Patrick Konrad ebenfalls das Parallelziel aus Sprints und Klassementplatzierung. Und Jumbo Visma verfolgte den Weg der Variabilität bei der letzten Tour noch konsequenter als die meisten Vorgängerteams. Doch da waren Etappensiege wie die von Wout Van Aert zwar möglich, aber auch stets untergeordnet unter dem globalen Podiumsziel.

Kompletter Strategiewechsel erst bei diesem Giro

Die Ursache dafür kann man in dem anderen wichtigen Phänomen dieses Giro sehen: der Jugendwelle. "Die jungen Rennfahrer kommen jetzt schon so komplett ausgebildet in der WorldTour an, dass man sie sofort in die Rennen schicken kann. Und das nicht nur als Helfer, sondern gleich als potentielle Siegfahrer", meinte Bora-Sportdirektor Jens Zemke. Das bedeutet, die Lehrzeit reduziert sich von früher etwa drei Jahren auf jetzt wenige Wochen.

Hinzu kommt, dass die so gut ausgebildeten jungen Kerle noch nicht überspezialisiert sind. Sie wissen selbst noch nicht, ob sie das Zeug zum Klassementfahrer haben, lieber auf die langen Klassiker orientieren sollten oder alle Konzentration auf die Entwicklung ihrer Endschnelligkeit legen sollen - und dabei zwangsläufig ein paar andere Qualitäten verlieren. In der Ungewissheit, ein neuer Cancellara zu sein oder doch ein neuer Indurain, probiert ein Filippo Ganna eben alles aus, mal ganz auf eigene Kappe, mal komplett im Dienst der Mannschaft.

Diese Vielseitigkeit gilt - in jeweils anderen spezifischen Ausprägungen - natürlich auch für Hindley, Geoghegan Hart, Almeida und so weiter. Und weil sie nicht nur physisch weiter sind als Neuprofis früherer Generationen, sondern auch bereits taktisch gut geschult, brauchen sie nicht viel Zeit zum Nachdenken, wenn die Teamtaktik vom Kopf auf die Füße und dann noch mal zurück in Richtung Schädel gestellt wird.

Der nächste Kulturwandel im Radsport

Ein weiterer unterstützender Faktor ist natürlich die neue Generation von sportlichen Leitern. Sie sind weniger der Tradition verpflichtet und setzen stärker auf die Aussagekraft der Daten. Das wird - nicht ganz zu Unrecht - gern kritisiert, weil es den Radsport auch schematischer macht.

Inzwischen scheint sich aber eine größere Portion Intuition in die Interpretation der Daten einzuschleichen. Wer etwa hohe Wattzahlen im Flachen treten kann, kann das auch bergauf. Er muss ja nicht unbedingt bis ganz nach oben kommen. Aber es lässt sich ausrechnen, wieviel Kraft wie lange vorhält, und welcher Output zur Sprengung einer Favoritengruppe oder zum Etablieren einer Fluchtgruppe nötig - und auch realistisch aufzubringen ist.

Der Radsport befindet sich gerade wieder mal in einem Kulturwandel, dem nächsten seit dem Einzug der Wissenschaftlichkeit a la Sky / Ineos. Auch jetzt ist Wissenschaftlichkeit ein Treiber. Das ganze Wissen wird aber viel variabler und mit größerer Sensibilität für die unterschiedlichen Rennsituationen eingesetzt - Radsport 4.0 sozusagen.

Mehr Informationen zu diesem Thema

04.01.2021Die Highlights des Giro d´Italia 2020

(rsn) - Der Giro d’Italia 2020 stand ganz im Zeichen der Youngster: Tao Geoghegan Hart (Ineos) sicherte sich den Gesamtsieg vor Jai Hindley (Sunweb), der Portugiese Joao Almeida (Deceuninck - Quick-

02.01.2021Spekenbrink verteidigt Giro-Taktik mit Kelderman und Hindley

(rsn) - Im Oktober 2020 musste Sunweb beim Giro d’Italia eine Entscheidung treffen, vor der sich jede Teamleitung fürchtet: Als der nominelle Kapitän Wilco Kelderman auf der 16. Etappe am berücht

18.12.2020Kelderman: “Bei Bora – hansgrohe spüre ich Vertrauen“

(rsn) - Wilco Kelderman (Sunweb) hat eine bewegte Saison hinter sich. Der Niederländer stand kurz vor dem Gesamtsieg beim Giro d’ Italia, ehe er am vorletzten Tag in Sestriere das Rosa Trikot an se

26.11.2020Sagan würde gerne zum Giro zurückkehren

(rsn) - Nach seinem erfolgreichen Giro-Debüt, bei dem er einen Etappensieg feiern und vier weiteren zweiten Plätzen würde Peter Sagan (Bora - hansgrohe) im kommenden Jahr gerne zur Italien-Rundfahr

30.10.2020Sagan: “Ich bin immer noch da und definitiv noch nicht fertig“

(rsn) - Peter Sagan (Bora - hansgrohe) hat an seinen 64 Renntagen dieser Saison nur einmal als Erster die Ziellinie überquert. Den Spaß am Radsport hat der dreimalige Weltmeister, der im Januar sein

28.10.2020Vegni fordert Bestrafung von EF und Jumbo - Visma

(rsn) - Giro-Renndirektor Mauro Vegni fordert Sanktionen gegen die Teams EF und Jumbo - Visma wegen deren Verhalten im Zusammenhang mit der Corona-Politik der Italien-Rundfahrt. Jumbo - Visma hatte da

27.10.2020Giro-Sieger Geoghegan Hart erhält 314.781 Euro Preisgeld

(rsn) - Tao Geoghegan Hart und sein Team Ineos Grenadiers haben beim 103. Giro d’Italia mit sieben Etappenerfolgen und dem Gesamtsieg nicht nur in sportlicher Hinsicht groß abgeräumt, sondern füh

27.10.2020Brailsford begeistert die neue Ineos-Fahrweise

(rsn) - Die bisherigen Grand-Tour-Siege von Ineos Grenadiers kamen alle nach dem gleichen Schema zustande. Zunächst hiel die Mannschaft das Feld zusammen, erhöhte dann im Schlussanstieg das Tempo, e

27.10.2020Trek-Segafredo-Chef Guercilena zweifelt nicht an Nibali

(rsn) - Vincenzo Nibali (Trek - Segafredo) war beim 103. Giro d’Italia erwartungsgemäß bester Italiener. Das kann den zweimaligen Gesamtsieger aber kaum darüber hinwegtrösten, dass er im Kampf u

26.10.2020Campenaerts: “Vielleicht war Giro-Zeitfahren mein letztes Rennen“

(rsn) - Mit seinem zweiten Platz im Zeitfahren von Mailand beendete Victor Campenaerts (NTT) den Giro d’Italia zwar mit einem Erfolgserlebnis. Doch der Stundenweltrekordler weiß immer noch nicht, w

26.10.2020Sunweb-Duo Hindley und Kelderman beim Giro 2021 Gegner?

(rsn) - Am Ende kam es für Team Sunweb so, wie es sich bereits nach der letzten Giro-Bergetappe angedeutet hatte: Jai Hindley konnte sein in Sestriere erobertes Rosa Trikot nicht verteidigen und wurd

26.10.2020Geoghegan Hart: Schulschwänzer, Kanalschwimmer, Giro-Sieger

(rsn) - Vor eineinhalb Jahren sorgte Tao Geoghegan Hart (Ineos – Grenadiers) mit seinem Teamkollegen Pavel Sivakov bei der Tour of the Alps für Furore, als die beiden ihre jeweils ersten Siege im P

Weitere Radsportnachrichten

28.04.2024Radsport live im TV und im Ticker: Die Rennen des Tages

(rsn) – Welche Radrennen finden heute statt? Wo und wann kann man sie live im Fernsehen oder Stream verfolgen? Und wo geht´s zum Live-Ticker? In unserer Tagesvorschau informieren wir jeden Morg

28.04.2024Dorn in der Türkei am Berg und beim Zwischensprint der Stärkste

(rsn) - Vor allem für die Teams Bike Aid und rad-net - Oßwald verlief die zurückliegende Woche erfolgreich. Santic - Wibatech, MYVELO und Rembe Sauerland konnten gegen WorldTour-Konkurrenz zuminde

28.04.2024Famenne Classic: De Lie feiert seinen ersten Saisonsieg

(rsn) - Arnaud De Lie (Lotto - Dstny) hat bei der Famenne Ardeche Classic (1.1) seinen ersten Saisonsieg eingefahren. Der Belgier setzte sich nach hügeligen 195 Kilometern rund um Marche-en-Famenne

28.04.2024Lidl - Trek gewinnt trotz Stürzen Auftakt der Vuelta Femenina

(rsn) – Trotz eines Sturzes in der letzten Kurve hat Lidl – Trek das Teamzeitfahren zum Auftakt der 10. Vuelta Femenina (2.WWT) für sich entscheiden können. Obwohl Ellen van Dijk und Eleanor Bac

28.04.2024Highlight-Video der 5. Etappe der Tour de Romandie

(rsn) – Dorian Godon (Decathlon – AG2R La Mondiale) hat zum Abschluss der 77. Tour de Romandie (2.UWT) seinen zweiten Tagessieg eingefahren. Der Franzose entschied bei regnerischem Wetter die 5. E

28.04.2024Zangerle verpasst für sein Team nur knapp den Heimsieg

(rsn) –Lukas Kubis (Elkov – Kasper) hat in Österreich das 62. Kirschblütenrennen gewonnen, das erstmals als UCI-Rennen der Kategorie 1.2 ausgetragen wurde und zugleich der zweite Stopp der Road

28.04.2024Carlos Rodriguez feiert Gesamtsieg vor Vlasov und Lipowitz

(rsn) – Beinahe noch eine Spur deutlicher als auf der 1. Etappe ging es im Sprint der Schlussetappe der Tour de Romandie (2.UWT) zu. Der Sieger war dabei derselbe: Dorian Godon (Decathlon – AG2R L

28.04.2024Lechner lässt in Tschechien nichts mehr anbrennen

(rsn) – Am letzten Tag der Gracia-Rundfahrt (2.2) hat Corinna Lechner (Wheel Divas) nichts mehr anbrennen lassen und sich den Gesamtsieg der tschechischen Rundfahrt gesichert. Auf der 5. Etappe, di

28.04.2024Van den Broek gewinnt als erster Niederländer Türkei-Rundfahrt

(rsn) – Wegen Regen und Wind musste die Schlussetappe der 59. Türkei-Rundfahrt (2.Pro) abgesagt werden. Frank van den Broeck (dsm-firmenich – PostNL) verteidigte so kampflos sein Führungstrikot

28.04.2024Lipowitz mit seiner Giro-Generalprobe mehr als happy

(rsn) – Auch wenn er im Vorjahr bei der Czech Tour die Gesamtwertung gewann, so ist die diesjährige Tour de Romandie als Durchbruch in der Karriere von Florian Lipowitz (Bora – hansgrohe) zu bewe

27.04.2024Reusser zurück im Feld und auf dem Weg zu Olympia

(rsn) - Knapp ein Monat ist seit dem schweren Sturz bei der Flandern-Rundfahrt vergangen, der für die 32-jährige Marlen Reusser (SD Worx - Protime) schwere Folgen hatte. Ober- und Unterkiefer, die

27.04.2024Huys saust im Zeitfahren allen davon

(rsn) – So schnell wie Tabea Huys (Maxx Solar Rose Women Racing) war noch nie eine Athletin auf dem 13,5 Kilometer langen Zeitfahrparcours der Gracia-Rundfahrt in der Tschechischen Republik. Seit 20

RADRENNEN HEUTE

    Radrennen Männer

  • Tour de Bretagne (2.2, FRA)