Müllers Tour-de-Singkarak-Tagebuch

Trotz Krämpfen noch auf Platz zwei gesprintet

Von Robert Müller

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Robert Müller | Foto: Robert Müller

05.11.2018  |  (rsn) - Hallo aus Dharmasraya, West-Sumatra, Indonesien! Am zweiten Tag stand gleich die längste Etappe auf dem Programm, 204 Kilometer mit zwei harmlos aussehenden Bergwertungen der 3. Kategorie, dazu ein einstündiger Transfer vor und ein dreistündiger nach dem Rennen, es sollte also ein langer Tag werden. Aber ich will mich nicht beklagen, mit dem typischen Montag der meisten Leser möchte ich jedenfalls nicht tauschen. Auf dem Papier sah die Etappe nach Massensprint aus, bergige 40 Kilometer zu Beginn, aber dann sehr viele flache Kilometer, auf denen das Feld eventuelle Ausreißer gut kontrollieren können sollte.

Ich wollte trotzdem in die Gruppe des Tages gehen, es ist mir einfach zu langweilig, mir mehr als 200 Kilometer lang den Hintern im Feld platt zu sitzen und nach dem Erlebnis gestern hatte ich eh keine Lust auf einen erneuten Massensprint. Vor dem Start stopfte ich mir die Trikotaschen mit eigentlich zu vielen Gels voll und Peter fragte mich, ob ich den gerade vorbei fahrenden Ukrainischen Meister (Oleksandr Polivida, d. Red.) kennen würde und ob er Druck hätte, doch ich kannte ihn nicht. Das sollte sich jedoch sehr bald schon ändern.

Die Etappe begann anders als gestern schnell, es wurde viel attackiert, wobei Matej Drinovec und ich uns mit dem Gruppen besetzen gut abwechselten. Irgendwann war ich vom vielen Attackieren ordentlich angezählt und beschloss, mich bis zur ersten Bergwertung etwas zu erholen und es dann noch mal zu probieren. Als es in den Anstieg zur Bergwertung ging, erkannte ich ihn wieder, letztes Jahr hatte ich mich hier ebenfalls auf der längsten Etappe mit einer Gruppe abgesetzt und später die Etappe gewonnen. Matej kam von vorne zurück und brüllte mir “Fuck, where are you?!“ entgegen.

Wenig später hätte ich ihm die Frage mit "in der Gruppe des Tages“ beantworten können, denn ich hatte den Sprung in selbige nach der Bergwertung tatsächlich geschafft und das Feld ließ uns sogleich gewähren. Wir waren zu fünft und verfolgten mit etwa 30 Sekunden Abstand zwei Fahrer, die in Sichtweite vor uns fuhren. Ich sah auf meinen Tacho und als mir klar wurde, dass noch 170 Kilometer zu fahren waren, wusste ich nicht, ob ich mich zu meiner aktuellen Situation beglückwünschen oder mich bedauern sollte.

Ein Fahrer führte nicht richtig mit und als ich ihn zur Rede stellte, erklärte er mir, er wolle nicht, dass die Gruppe vorne bliebe - na toll. An der zweiten Bergwertung konnten wir uns zum Glück seiner entledigen und setzten die Verfolgung des Spitzenduos, das immer noch mit gleichem Abstand vor uns her fuhr, aber nicht auf uns wartete, nun zu viert fort. Der Abstand aufs Feld betrug mittlerweile bereits vier Minuten und wir hingen zwischen der Spitze, die die beiden Bergwertungen und auch die erste Sprintwertung abgegriffen hatte, und dem Feld, wobei wir nur noch zu dritt führten, da unser vierter Mann seine Führungsarbeit eingestellt hatte. Eine bescheidene Gesamtsituation.

Irgendwann hatten die beiden vorne Erbarmen und ließen uns heran kommen und wir wurden auch das "sechste Rad am Wagen" los. Endlich waren wir eine harmonische Spitzengruppe, bestehend aus fünf Fahrern, die sich einig waren und in der jeder seinen Teil der Führungsarbeit leistete. Nun galt es eine erträgliche Reisegeschwindigkeit für die hoffentlich nächsten Stunden zu finden, wobei generell darauf zu achten ist, am Anfang nicht zu hart zu fahren. Der Abstand wird nämlich nicht von der Gruppe vorne bestimmt, sondern das Feld entscheidet, wie viele Minuten es der Gruppe zubilligt.

Eine Spitzengruppe ist ein seltsames Zweckbündnis auf Zeit, zunächst beäugt man sich gegenseitig und jeder versucht, die anderen Mitstreiter einzuschätzen. Nach diesem ersten Kennlernen folgt Phase zwei, das gemeinsame Verfolgen eines Ziels, nämlich es vor dem Feld in selbiges zu schaffen. Dabei versorgt man sich teamübergreifend mit Essen und Getränken, motiviert sich gegenseitig und gestattet dem Anderen auch mal eine kurze Pause von der Führungsarbeit; man kümmert sich umeinander. Doch sobald es ins Finale geht, ist es mit dem Frieden vorbei, nun heißt es: jeder gegen jeden und man macht sich gegenseitig das Leben so schwer wie möglich und versucht, den Anderen den letzten Stoß zu verpassen.

Nach 100 zurückgelegten Kilometern standen auf der Tafel des Begleitmotorrads fünf Minuten und ich wusste, das ist zu wenig. Wir hätten eher das Doppelte gebraucht. Nicht viel später standen dort jedoch acht Minuten, was mich stutzig machte, da es in der Kürze der Zeit eigentlich nicht möglich war, drei weitere Minuten herauszufahren. Ich nahm mir vor, mich nicht allzu sehr auf die Angaben zu verlassen, doch der Abstand blieb für längere Zeit stabil bei rund acht Minuten und erste Hoffnung keimte auf, das Unterfangen zu einem erfolgreichen Abschluss bringen zu können.

Unterwegs standen noch zwei Sprintwertungen an, von denen ich die eine gewinnen konnte und bei der letzten Zweiter hinter besagtem Ukrainischen Meister wurde. Mittlerweile hatte ich auch festgestellt, dass er sehr wohl Druck auf die Pedale brachte, und zwar mehr als wir anderen, was er dankenswerterweise dazu nutzte, die längsten Führungen zu fahren. Ich versuchte hingegen mit zunehmender Renndauer subtil eine abnehmende Führungsdauer meinerseits zu etablieren, was mir zufriedenstellend gelang. Außerdem zwang ich mich, so viel Pocari Sweat (asiatisches Elektrolytgetränk) wie möglich zu trinken und mir alle meine Gels einzuverleiben, wobei ich darauf achtete, knapp unterhalb der Aufnahmegrenze meines Magens zu bleiben.

Mittlerweile war klar, dass wir es deutlich vor dem Feld ins Ziel schaffen würden, aber ich verzichtete darauf, mir einen genauen Plan fürs Finale zurecht zu legen, da ich mit einem altbekannten Problem zu kämpfen hatte: Krämpfen in beiden Oberschenkeln. Ich kann einfach nicht so viel trinken, wie ich bei der Hitze schwitze und dehydriere deshalb über lange Zeit schleichend. Daher wusste ich nicht, was meine Beine noch hergeben würden und konnte nur auf des Beste hoffen. Allerdings bin ich recht geübt darin, mit Krämpfen noch einen passablen Sprint zu fahren, was eigentlich pervers ist.

Am Zwei-Kilometer-Schild begann die Straße zu steigen und es gab die erste Attacke. Der Ukrainer setzte nach und wir anderen drei blieben zurück und schauten uns an. Mir war schlagartig klar, wenn ich das Loch jetzt nicht mit Gewalt schließen würde, wäre es vorbei. Es gelang mir unter Schmerzen und kurzzeitig waren wir wieder vereint und passierten gemeinsam die Flamme Rouge. Bei circa. 700 Metern attackierte der Ukrainer von hinten und ich konnte nicht sofort reagieren, stattdessen schrie ich die anderen an nachzusetzen. Doch auch sie waren in keinem besseren Zustand als ich und so begann ich bei etwa 400 Metern einen langen Sprint, in dem mich zwischendurch noch mal kurz hinsetzen musste, und kam tatsächlich wieder etwas näher heran, aber es reichte nicht mehr.

Mit drei Sekunden Rückstand überquerte ich die Ziellinie als Zweiter, verdammt! Zunächst war ich ziemlich enttäuscht über den verpassten Sieg, aber es hat der stärkste Fahrer gewonnen, von dem allerdings leider gemunkelt wird, dass er nicht nur mit Wasser und Brot fährt. Ich kann mir einzig vorwerfen, dass ich auf dem letzten Kilometer nicht direkt an seinem Rad war, sonst habe ich nichts falsch gemacht. Wir retteten noch einen Vorsprung von 3:30 Minuten auf das Feld und in der Gesamtwertung bin ich nun mit fünf Sekunden Rückstand zweiter, ebenso wie in der Punktewertung.

Geschenk des Tages: Grünes Trikot stellvertretend, da der Führende Gelb trägt.

Morgen gleiche Stelle, gleiche Welle

Gez. Sportfreund Radbert

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