Guadeloupe-Tagebuch von Hermann Keller

Wieso sind hier alle so gemein zu mir?

Von Hermann Keller

Foto zu dem Text "Wieso sind hier alle so gemein zu mir?"
Hermann Keller (Embrace the World, li) und seine Teamkollegen bei der Tour de Guadeloupe| Foto: Embrace the World

10.08.2019  |  (rsn) - Liebes Tagebuch, wieso sind hier alle so gemein zu mir? Der Tag begann eigentlich sehr gut, denn auf dem Plan stand eine eher entspannte Etappe. Nur ein Berg zu Beginn, den wir aber schon kannten. Zuvor durften wir aber noch eine Abfahrt hinuntersausen, diese war leider neutralisiert. Eigentlich gemein, denn endlich wäre ich auch mal im Vorteil gewesen!

Nachdem wir unten angehalten hatten, ging das Rennen direkt los. Ich versuchte mein Heil sofort in der Flucht, um eventuell mit einer ungefährlichen Gruppe in den Berg zu kommen. Und um dann daraus abgehängt zu werden, es aber dennoch im ersten Feld über den Berg zu schaffen. Diesen Plan verfolgten leider auch andere Fahrer, unter anderem gefährliche Jungs fürs Gesamtklassement. Wobei die vermutlich den Teil "aus der Spitzengruppe am Berg herausfallen“ eher nicht auf dem Schirm hatten. Daher musste ich den Berg mit dem Feld zusammen in Angriff nehmen. Ich konnte mich dennoch erstaunlich gut vorn halten und sah daher aus erster Reihe, wie Diego Mílan Jimenez (ein sehr schöner Name!) vom Inteja Team angriff.

Natürlich konnte ich nicht folgen, denn nicht umsonst liegt er auf dem fünften Gesamtrang nur 2:30 Minuten hinter Freddy (Frederik Dombrowski). Da sie aber nur zu zweit losgefahren waren, beschlossen wir sie ziehen zu lassen. Kurze Zeit später griffen erneut einige Fahrer an. Ich sprang ans Hinterrad und dachte, ich hätte den Capitano dabei, der war aber leider eingebaut. So machte ich mich mit ein paar weiteren Fahrern auf die Socken. Ich konnte wie erwartet nicht lange am Berg folgen und fiel langsam wieder zurück.

Plötzlich wurde ich von einem Kollegen vom Dauner Team ein-/überholt. Er schaffte noch den Sprung nach vorne, war aber rund 30 Kilometer später schon wieder zurück im Feld. Abends fand ich dann den Grund heraus: Sein Mannschaftswagen konnte nicht nach vorne kommen und die anderen Teams wollten ihn nicht verpflegen. So erlitt er einen dezenten Wassermangel… Sehr schade und eine Schande für die anderen Sportlichen Leiter, einen Fahrer bei diesen Temperaturen nicht mitzuverpflegen!

Ich schaffte es also relativ weit vorne in der ersten Gruppe zusammen mit Freddy und Peschgi über den Berg. Auch die anderen ließen kein Loch aufreißen, waren aber etwas weiter hinten platziert. Als wir nach der Abfahrt die Bestandsaufnahme gemacht hatten, wurde uns klar, dass die Gruppe an der kurzen Leine gehalten werden sollte. Ich ließ mich zum Auto zurückfallen und fragte Micha nach mehr Informationen und wie wir weiter verfahren sollen. Wir beschlossen nicht direkt hinterherzufahren, da das Gelbe Trikot, der Zweitplatzierte und der Viertplatzierte ebenfalls in unserem Feld waren. Ein großer Fehler, wie sich später herausstellte. Die anderen wollten auch nicht fahren und plötzlich hatte die Spitzengruppe vier Minuten Vorsprung. Ab diesem Zeitpunkt begann der Alptraum. Wir reihten uns vorne ein, wobei Fred und ich uns erst noch zurückhielten. Ich sollte ja eigentlich heute sprinten…

Wir mussten alle unsere Überredungskünste anwenden, um zumindest das kasachische Team des Zweitplatzierten zur Mitarbeit zu bewegen. Die Jungs fuhren sich die Seele aus dem Leib und verkleinerten den Vorsprung auf rund 3:30 Minuten. Die Bergwertung teilte unseren Zug wie Moses das Meer. So konnte auch der Vorsprung wieder anwachsen. Das war ungefähr der Zeitpunkt, an dem ich realisierte, dass meine Schonfrist abgelaufen war und die Geheimwaffe ausgepackt werden musste.

Ich spannte mich vor das Feld, in der Hoffnung, gleich wieder Gesellschaft von meinen Teamkollegen zu bekommen. Diese Gesellschaft ließ nur leider rund zehn Kilometer auf sich warten und mir wurde bewusst, die Geheimwaffe ist nicht geladen. Hin und wieder kam einer der Kasachen und leistete mir Unterstützung, aber wirklich schlagkräftig waren wir da vorne nicht.

Als die Lage schon sehr aussichtlos aussah, kam Marcel nach vorne und ich spürte eine Erschütterung der Macht. Er spannte sich an die Spitze und als ich ihm zurief, ich könne auch mal wieder in die Führung, war seine Antwort nur: “Lass mich noch fahren, ich brauche meinen Rhythmus!“ Ich wollte den guten Mann nicht bei der Arbeit stören und ließ ihn knappe zehn Kilometer gewähren, bis er ausscherte. Danach war ich wieder an der Reihe, konnte allerdings nur knapp fünf Kilometer die Lokomotive spielen. Der Unterschied bei uns beiden: Marcel blieb im Feld und ich ward nicht mehr gesehen.

Auch das Gruppetto konnte ich nicht mehr halten und fiel hoffnungslos zurück. Kein Problem – es waren nur noch 50 Kilometer ins Ziel! Ich war mir zwischenzeitlich auch ehrlich gesagt nicht ganz sicher, ob ich ein Problem mit dem Zeitlimit haben würde. Ich schleppte mich mehr schlecht als recht ins Ziel und sackte dort erstmal etwas in mir zusammen. Ich nahm kaum wahr, als Micha mir erzählte, dass Diego Mílan Jimenez (immer noch ein wundervoller Name) kurz vor dem Ziel aus der Spitze zurückfiel und vom Peloton geschluckt wurde. Auch nicht, dass Basti sogar noch weiter abgeschlagen als ich im Ziel eintrudelte, da er der Bergwertung zum Opfer gefallen war..

Die Stimmung hielt sich heute beim Abendessen in Grenzen, da wirklich jeder ans Limit gehen musste. El Capitano hat aber keine Zeit verloren, daher können wir die Etappe als Erfolg verbuchen. Drückt mir nun bitte wirklich die Daumen (anscheinend haben es gestern nicht sehr viele Leute getan), denn mir reicht es jetzt wirklich. Morgen stehen zwei Halbetappen an, zumindest die Zweite werde ich vermutlich keine Attacken fürchten müssen. Es ist ein Zeitfahren.

Ich lasse morgen wieder von mir hören, bis dahin einen schönen Tag!

Liebe Grüße,

Hermann

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