Van Aert, Evenepoel, Küng erste Sieg-Kandidaten

WM-Kampf um Zeitfahr-Gold offen wie lange nicht

Von Sebastian Lindner

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Einer der Favoriten auf WM-Zeitfahrgold: Remco Evenepoel | Foto: Cor Vos

10.08.2023  |  (rsn) – Als Tobias Foss im vergangenen Jahr in Wollongong Weltmeister im Zeitfahren der Männer wurde, kam das mehr oder weniger aus heiterem Himmel. Eher mehr. Doch noch größer wäre die Überraschung nun, wenn der Norweger seinen Titel verteidigen könnte. Weder vor noch nach seinem Coup konnte der 26-Jährige bei internationalen Rennen einen Sieg einfahren.

“Schade, dass ich nie im Regenbogentrikot gewonnen habe“, sagte Foss dem niederländischen Radsportportal Wielerflits nach dem Zeitfahren der Polen-Rundfahrt vor einer Woche, das einige Profis als Generalprobe für die WM nutzen. Neunter wurde er dort, wohlwissend, dass es wahrscheinlich die letzte Mal war, das Regenbogentrikot auf einem Siegerpodium zu präsentieren.

Die Chancen, in Stirling, wo die Einzelzeitfahren der WM in Schottland ausgetragen werden, erneut einen Überraschungs-Weltmeister oder gar ein ganzes -podium wie zuletzt 2015 in Richmond mit Vasil Kyrienka (Weißrussland), Adriano Malori (Italien) und Jerome Coppel (Frankreich) zu erleben, sie sind eher gering. Zu groß ist die Dichte an Top-Fahrern und Favoriten, die 2023 die Goldmedaille anpeilen.

Holt Van Aert endlich Gold?

Die Frage ist vielmehr: Wer ist der größte Anwärter auf Gold? Mit Blick auf den gesamten Saisonverlauf wäre das sicher Remco Evenepoel. Beim Giro d’Italia hat der Belgier die beiden topbesetzten Zeitfahren in beeindruckender Manier gewonnen, kurz vor den Welttitelkämpfen bei der Clasica San Sebastian seine starke Form erneut unter Beweis gestellt. Doch beim WM-Straßenrennen am Sonntag konnte der 23-Jährige, der auch die Vuelta a Espana (ab 26. August) gewinnen will, dann überraschend nicht mit den besten mithalten.

Und so wandert der Kelch des Top-Favoriten möglicherweise weiter zu Evenepoels Landsmann Wout Van Aert, frischgebackener Vize-Weltmeister im Straßenrennen. Nichts, was ihn zu riesigen Jubelstürmen veranlassen würde, sagte der 29-Jährige kurz danach. Was durchaus verständlich ist, war es doch seine vierte Silbermedaille innerhalb der letzten sechs WM-Rennen auf der Straße. Dazu gehören auch die beiden zweiten Plätze in den Zeitfahren 2020 und 2021 – in Wollongong war Van Aert nicht am Start.

Stefan Küng könnte dazu in der Lage sein, den Belgier ein weiteres Mal zum Vize zu verdammen. Der Schweizer zeigte sich bei seinem Saisonhighlight bisher bestens in Form. Schon im Straßenrennen fuhr er auf einen überraschenden fünften Platz, in der Mixed-Staffel verteidigte er mit seiner Mannschaft Gold. Der Stadtkurs von Glasgow käme dem 29-Jährigen also entgegen.

Doch dort wird das Einzelzeitfahren der Männer nicht ausgefahren. Wie alle anderen Individualwettbewerbe kämpfen auch die Männer rund um Stirling nordöstlich von Glasgow um den Titel. “Das wird jetzt etwas komplett anderes“, sagte Küng bereits. “(In Glasgow) gab es vielleicht 45 Kurven, hier sind es vier – und das auf einer fast 50 Kilometer langen Strecke.“

Die Streckenkarte des WM-Zeitfahrens der Männer | Foto: Veranstalter

Tatsächlich hat die Schleife e um Stirling kaum etwas gemein mit der Runde durch die schottische Metropole. Genau 47,8 Kilometer sind zu fahren, mehr war es bei einer WM zuletzt 2019 in Harrogate. Darauf verteilen sich insgesamt 352 Höhenmeter. Der Großteil davon findet sich in der zweiten Hälfte wieder. Auch wenn es kurz vor Kilometer 30 einmal steil wird – das einzige größere Hindernis wird die steile Zielanfahrt zur Festung von Stirling mit sechs Prozent Steigung auf den letzten 750 Metern und Kopfsteinpflaster – wenn auch verhältnismäßig harmlosem.

Das Profil des WM-Zeitfahrens der Männer | Foto: Veranstalter

Küng: “Erster Teil fast ein bisschen langweilig“

“Das Finale wird wehtun, das ist sicher“, kündigte Küng an. Doch der zweite Teil werde ihm besser liegen. “Der erste ist fast ein bisschen langweilig, weil man ständig aerodynamisch mit gesenktem Kopf fahren muss. Dazu besteht die Gefahr, es zu schnell anzugehen.“

Titelambitionen wird auch Filippo Ganna hegen. Der Weltmeister von 2020 und 2021 hat sich im Laufe der letzten Woche bisher allerdings auf die Bahn konzentriert. Mit Silber in der Mannschaftsverfolgung und dem Sieg auf den 4000 Metern Mann gegen Mann hatte der Italiener bereits Grund zum Jubel. Inwiefern das Kraft gekostet hat und wie sich der Wechsel von der Bahn auf die Straße innerhalb kürzester Zeit vereinbaren lassen, muss Ganna aber erst noch unter Beweis stellen.

Mit dem Australier Rohan Dennis ist auch Gannas direkter Vorgänger als Doppelweltmeister im Zeitfahren am Start. Für den 33-Jährigen sind die Weltmeisterschaften das letzte Highlight seiner Karriere, zum Saisonende ist Schluss. Wirklich erfolgreich war Dennis jüngst aber nicht mehr – vielleicht, weil er sich vollends auf diesen Tag konzentriert hat. Trotzdem fällt Dennis eher die Rolle eines aussichtsreichen Außenseiters zu.

Und die teilt er sich mit einer ganzen Reihe an potenziellen Medaillenkandidaten. Da wäre zum Beispiel noch Remi Cavagna (Frankreich), der mit der Mixed-Staffel bereits Silber gewonnen hat. Oder Mikkel Bjerg (Dänemark), der einst mit drei Titeln in Serie (2017 bis 2019) die U23-Konkurrenz dominierte. Der Sieg im Zeitfahren beim Critérium du Dauphiné vor Jonas Vingegaard war sein erster Sieg als Profi.

Waliser Überraschungen und deutsche Hoffnungen

Auch Tadej Pogacar (Slowenien) muss ausnahmsweise auf die Favoritenrolle verzichten, auch wenn er sich im Straßenrennen noch mit Bronze dekorierte. Er spüre noch die Belastungen aus diesem Rennen, sagte er. Doch auch wenn das nur eine Floskel ist – eine Medaille wäre zumindest eine kleine Überraschung.

Und noch ein bisschen größer wäre sie, wenn das walisische Duo, das in Schottland den Union Jack zumindest mit kleinem Heimvorteil vertritt, Edelmetall holen könnte. Während Joshua Tarling mit 19 Jahren fast noch bei den Junioren fahren könnte – und dort 2022 auch Weltmeister wurde – und mit Abstand der Jüngste ist, zählt Geraint Thomas mit 37 zu den ältesten Startern überhaupt. Dass man den Altmeister nie abschreiben darf, hat Thomas beim Giro bewiesen, als ihn Primoz Roglic erst am letzten Tag aus dem Rosa Trikot fuhr. Und auch sein junger Landsmann hat in diesem Jahr bereits geliefert. Beim Zeitfahren der Tour de Wallonie war auf 32 Kilometern lediglich Ganna schneller als Tarling. Und das auch nur um acht Sekunden. Bei den Britischen Meisterschaften kam dann keiner am Youngster vorbei. Tarling strotzt nicht nur so vor Talent, sondern auch vor Selbstbewusstsein – die U23-Weltmeisterschaft überspringt er einfach.

Ob auch aus deutscher Sicht Überraschungen möglich sind, können Nils Politt und Lennard Kämna beweisen. Während sich Kämna im Formaufbau für die Vuelta befindet und wohl nicht im Vollbesitz seiner Kräfte sein wird, ist Politt gefühlt schon den ganzen Sommer in Topform. In zählbare Erfolge ummünzen konnte er das bislang allerdings noch nicht. Immer dann, wenn der Deutsche Zeitfahrmeister Aussichten auf Erfolg hatte, kam ein technischer Defekt dazwischen. Auch im WM-Straßenrennen erwischte Politt wieder. Hält das Bike, kann der 29-Jährige vielleicht in die Top 10 fahren.

Ähnlich stark einzuordnen wie Politt ist Stefan Bissegger. Der Zeitfahr-Europameister gewann wie Küng mit der Mixed-Staffel Gold, ist in dieser Saison in seiner Spezialdisziplin aber noch ohne Sieg. Die österreichischen Farben vertreten Patrick Gamper und Felix Ritzinger, der Bergzeitfahr-Europameister Felix Großschartner ersetzt.

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