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17.07.2011 | (rsn) - Fabian Cancellara war sauer. Und wenn jemand mit dem Spitznamen "Spartakus" sauer wird, duckt sich selbst die aufdringliche Journalistenmeute weg. Vor wenigen Minuten hatte der Schweizer erst die letzte Bergwertung in den Pyrenäen erfolgreich erklommen, schon drohte neuer Ärger.
Denn hinter dem Ziel verwandelt sich bei solchen Schlussanstiegen der Parkplatz in die größte "mixed zone" und Umkleide Frankreichs. Weil die Teambusse im Tal bleiben und nur die Mannschaftswagen bis zum Gipfel dürfen, wimmelt es kurz nach Etappenende vor Fahrern, Fans und Fahrzeugen.
Auf engstem Raum treffen Begeisterung und Benommenheit aufeinander: Abgekämpfte Recken arbeiten sich zu den Autos ihrer Rennställe durch, TV-Teams suchen Interviewpartner, die Presse sammelt O-Töne, die Fans Autogramme und Schnappschüsse.
Schatz, wie war dein Tag?
Und entsprechend sauer war Cancellara, dass ihm kaum Raum und Zeit gegeben wurde, halbwegs in Ruhe auf der Kofferraumkante des Minibusses das verschwitzte Trikot zu wechseln. Auf der Fläche einer Telefonzelle versuchten sich neben ihm auch Jens Voigt und Maxime Monfort halbwegs frisch zu machen, während die Kameras und Mikrofone schon im Anschlag gehalten wurden.
Da platzte dem Kraftpaket aus Bern der Kragen: "It's not a f...ing strip club", knallte er den übereifrigen Kollegen vor den Latz - und sorgte so umgehend für Raumgewinn. Wenig später, die frischen Sturzwunden am Oberkörper vor neugierigen Blicken versteckt, stand bzw. saß dann Voigt auf einer Motorhaube Rede und Antwort.
Der sehr spezielle Mikrokosmos jener Massenumkleide ist immer wieder ein Erlebnis: Da wird teamintern und -übergreifend erste Bilanz gezogen. Da treffen sich Mannschaftskameraden nach getrenntem Wege wieder, der abgekämpfte Sprinter erkundigt sich beim Kapitän, wie's denn so lief ganz vorne im Rennen, der erschöpfte Klassiker-Spezialist schildert dem Kletterer den Tag im Grupetto.
Links wird das gelbe Rad von Thomas Voeckler vorbei geschoben, rechts bringt jemand die Blumen von Sandy Casar in Sicherheit. Valerio Piva verteilt aufmunternde Klapse an seine HTC-Jungs, David Moncoutié blickt irgendwie traurig von der Rückbank durch die Scheibe, die Minibusse füllen sich wie bei der Ausfahrt eines Provinzvereins: Dicht an dicht sitzen die besten Radfahrer der Welt und warten auf die Abfahrt ins Tal.
Einblicke der anderen Art
Bis es losgeht, wird auch immer wieder die Gelegenheit zu kleinen Gesprächen abseits der Hektik im Rennen genutzt. Alain Gallopin etwa macht sich von RadioShack auf zu den einstigen Astana-Kollegen, Ex-Profis, die nun im Tour-Tross mitarbeiten, schauen kurz bei einstigen Wegefährten vorbei. Dazwischen Gendarme, Hostessen, Hobbyfahrer, Schlachtenbummler, geschaffte Kommentatoren.
Streift man durch diese bunte, wuselnde "Boxengasse", wird der Unterschied zum Motorsport aber sofort deutlich. Während in der Formel 1 die Boliden sofort neugierigen Blicken entzogen werden, kann hier ein Fan das Rad seines Idols einfach mal probeweise anheben oder die Übersetzung in Augenschein nehmen. Ein Blick auf die Autodächer zeigt, wie gebeutelt RadioShack ist - da ist nach den vielen Ausfällen jede Menge freier Platz. Bei Garmin hingegen kann man sehen, dass Thor Hushovd neben seiner heute gewählten schwarzen Rennmaschine auch noch ein weißes und ein gelbes Modell zur Auswahl hat.
Daneben gibt es Einblicke, die man teilweise gar nicht haben wollte: Sonst unter Trikots versteckte Verletzungen werden sichtbar, ausgemergelte Oberkörper trockengerieben, blutüberströmte Beine gesäubert. Außerdem wird sichtbar, wer sich zwar sonst die Brust rasiert, seit dem letzten Ruhetag aber nicht mehr dazu kam oder bei welchem schüchtern wirkenden Profi sich unerwartete Tattoos aus dem Lendenbereich nach oben winden. Nein, Namen werden auch auf Nachfrage nicht genannt.
Zurück im eigenen Fahrzeug frage ich mich während der Abfahrt, wann eigentlich meine Kollegen aus dem Fußball-Ressort zuletzt nach einem Top-Spiel mit den Mannschaften in die Umkleide durften.