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24.07.2015 | (rsn) - Kann er nicht oder traut er sich nicht? Viel zu spät griff Nairo Quintana (Movistar) im Schlussanstieg der 19. Etappe der Tour de France von Saint-Jean-de-Maurienne nach La Toussuire – Les Sybelles (138 km) das Gelbe Trikot an. Statt Chris Froome (Sky) ins Wanken zu bringen, nahm der Führende in der Nachwuchswertung dem Tour-Spitzenreiter nur 32 Sekunden (inklusive Zeitgutschrift für Rang zwei) ab, obwohl er der stärkste Bergfahrer an diesem Tag gewesen war.
„Ich habe es mehrmals versucht. Aber Froome hat sehr stark geantwortet. Morgen werde ich wieder attackieren“, versprach Quintana im Ziel. Dabei wirkte er aber so, als würde er nicht wirklich an seinen Erfolg glauben. Vielleicht ist das auch das Problem des kleinen Kolumbianers?
Denn Froome, der im Gegensatz zu ihm äußerst selbstbewusst erscheint, nimmt seinen einzig verbliebenen Konkurrenten aus den ehemaligen „Big Five“ sehr viel ernster: „Nairo hat mir ordentlich Zeit abgenommen. Aber ich bin nach seiner Attacke in den Zeitfahrmodus gewechselt und habe mit Blick auf morgen auch versucht, nicht zu hart zu fahren."
Der Brite schaute immer wieder auf sein Leistungsmessgerät, um nicht in den Roten Bereich zu gelangen. Froome, darauf angesprochen, ob ihm die Erfahrung der letzten beiden Jahre (Toursieg 2013, Ausstieg nach Sturz 2014/d. Red.) heute im Kampf um den Toursieg helfen würde, antwortete: „Ich kenne meinen Körper jetzt besser. Deshalb bin ich auch nicht in Panik geraten, als Nairo angriff.“ Auch mit dieser Aussage machte er deutlich, wie sehr er die Stärke des Mannes im Weißen Trikot achtet.
Angenommen also, Quintana hätte nicht erst fünf Kilometer vor dem Ziel sein Heil in der Flucht nach vorne gesucht, in einem nicht mehr so steilen Bereich (6 – 9 % Steigung), der zum Ende auch noch abflachte, was ja Froome wieder entgegenkam, sondern schon in der steilen Passage am Col de la Croix de Fer (mehr als 9 %), wo das Gelbe Trikot nach mehreren Attacken isoliert von seinen Teamkollegen gewesen war, so hätte er deutlich mehr anrichten können.
Doch dazu hätte Mut gehört, den der sehr schüchtern wirkende Süd-Amerikaner wohl nicht aufbringen will. Andererseits würde der 25-Jährige auch seinen zweiten Platz auf dem Podium riskieren, falls er mit einer zu früh gestarteten Attacke einbrechen würde.
So konnte sich Froome nach eigenen Angaben „Reserven für morgen behalten“. Der Spitzenreiter geht vorsichtig in die letzte Bergetappe der 102. Tour. „Natürlich bin ich etwas nervös, denn morgen ist die letzte große Prüfung. Aber hoffentlich kann ich den Sieg nach Hause bringen - und ganz offensichtlich werde ich dazu einem kleinen Kolumbianer folgen müssen.“
Dass Quintana ihm das Gelbe im Anstieg nach Alpe d’Huez noch ausziehen könnte, glaubt er aber wohl selbst nicht mehr. Denn Froome sagt auch: „Morgen, das kann eine unglaubliche Etappe werden. Es ist der beeindruckendste Anstieg dieser Tour. Es ist der letzte Test für die Gesamtwertung. Die Atmosphäre dort wird unbeschreiblich sein. Ich bin in einer guten Position mit zweieinhalb Minuten Vorsprung. Ich kann es gar nicht abwarten, dort hinauf zu fahren.“