Kellers Guadeloupe-Tagebuch

70 Kilometer vor dem Ziel zog ich ein Parkticket

Von Hermann Keller

Foto zu dem Text "70 Kilometer vor dem Ziel zog ich ein Parkticket "
Hermann Keller (rechts) und seine Teamkollegen bei der Tour de Guadeloupe | Foto: Embrace The World

11.08.2022  |  (rsn) - Heute standen 148 schwere Kilometer auf dem Programm. Wie gestern erwähnt, war der Plan, jemanden in der Spitzengruppe unterzubringen, um dann nach dem Anstieg zum Vulkan noch einen Helfer für Oli (Mattheis) zu haben.

Den Plan nahm ich mir zu Herzen und sobald die Flagge zum scharfen Start fiel, attackierte ich. Die Kommentatoren sind solche Aktionen zwar von unserem Team, aber anscheinend nur von einem Fahrer gewohnt. Mein Angriff wurde im TV kommentiert mit: “Embrace The World greift an, wahrscheinlich ist es Marcel Peschges!“ Zeit zum Korrigieren blieb ihnen aber nicht, denn schon war ich wieder eingeholt.

Es ging noch eine ganze Weile weiter mit Attacke über Attacke, bis sich nach etwa 20 Kilometern eine Gruppe absetzen konnte. Die Gruppe war noch nicht allzu weit entfernt, also ließ ich es durch einen Kreisverkehr recht schnell durchlaufen und fuhr mit einem Begleiter der Premier-Tech-Mannschaft nach vorne. Wir kamen direkt am Fuß der ersten Bergwertung an und zu meiner Begrüßung übernahm der im Bergtrikot fahrende Sieger der 2. Etappe direkt die Führung und drückte mächtig aufs Gas.

Mein Glück war, dass es nur eine Bergwertung der 3. Kategorie war, da ich mich sonst direkt wieder hätte verabschieden müssen. So konnte ich mich aber über den Berg vorne halten und war froh, es endlich einmal in die Gruppe des Tages geschafft zu haben. Die Freude verging aber recht schnell, da mir wieder einfiel, dass die Gruppe für mich maximal eine Starthilfe in den Berg sein und ich auf gar keinen Fall mit dieser Gruppe zur Ziellinie fahren würde.

Wir harmonierten einigermaßen gut, aber im Feld war das Tempo sehr hoch, weshalb wir maximal einen Vorsprung von zweieinhalb Minuten zugestanden bekamen. In der Anfahrt zum Vulkan gab es schon einige sehr steile Rampen, an denen es die Erdanziehungskraft nicht gut mit mir meinte. Pünktlich zum Beginn des eigentlichen Anstiegs rund 70 Kilometer vor dem Ziel zog ich dann auch ein Parkticket und verabschiedete mich aus der Spitzengruppe. Zu diesem Zeitpunkt betrug der Vorsprung lediglich noch eine Minute, weshalb ich recht bald vom Feld eingeholt wurde. Während ich vor mich hindümpelte, überschlugen sich allerdings noch einmal die Ereignisse.

Oli hatte einen Hinterraddefekt, Marcel gab ihm in einem nicht enden wollenden Wechsel sein Hinterrad. Fabian (Kruschewski) wartete langsam weiterfahrend. Der TV-Hubschrauber flog sehr tief über dem Dschungel, was dazu führte, dass ein halber Baum auf die Straße flog. Blöd war nur, dass in diesem Moment auch das Feld dort unterwegs war und Fahrer durch den "Luftangriff" behindert wurden.

Da aber alle Fahrer (bis auf einen, der sehr früh schon abgehängt wurde) das Ziel erreichten, wurde wohl niemand schwer verletzt. "Unser Glück“ war, dass sich keiner unserer Fahrer zu dem Zeitpunkt im Feld befand, da Thomas ähnlich pünktlich wie ich, direkt am Fuße des Berges abgehängt wurde, ich noch nicht eingeholt war und die anderen drei sich am Radwechsel versuchten.

Es muss kurz nach dem Einschlag gewesen sein, als ich vom Feld begrüßt wurde. Die Begrüßung und zeitgleich auch Verabschiedung übernahm der Vorjahressieger höchstpersönlich mit einem Grinsen und den Worten: “Have a good day, guy!“ Viel Zeit darüber nachzudenken, ob die Worte aufbauend gemeint waren, hatte ich nicht. Ich hörte Fabian rufen und blickte nach hinten, um dann Oli wenige Meter entfernt zu sehen.

In einer Flashbackepisode von 2019 wurde mir Oli wie damals Fred Dombrowski wie ein Staffelstab übergeben und ich ging nochmals mehr schlecht als recht tief, um Oli wieder nach vorne zu bringen. Als ich dann irgendwann ausscherte, kam bald von hinten ein Gruppetto in ordentlicher Größe, in dem auch Fabian dabei war. Wenig später kam auch Marcel, der fuhr dann aber direkt an uns vorbei. Ich war in dem Moment einfach nur froh, dass sich der Rest unserer Gruppe davon nicht animiert fühlte und wir einfach weiter unser Tempo fuhren.

Oli schaffte es nicht mehr ganz nach vorne, da sich das Feld im Anstieg zum Vulkan noch komplett zerlegte. Er passierte einige Gruppen, fuhr die Abfahrt volles Risiko und befand sich dann, als es an der Küstenstraße entlang zum Schlussanstieg ging, in einer Verfolgergruppe.

Marcel war irgendwo vor unserem Gruppetto, Fabian und ich zusammen und Thomas organisierte sich zwei belgische und einen einheimischen Begleiter und befand sich knapp hinter unserer Gruppe. Etwa 30 Kilometer später waren dann aber doch vier Fahrer des Teams im Gruppetto, da Thomas seine Begleiter dazu überreden konnte, ordentlich weiterzufahren, um zu unserer Gruppe zu gelangen und Marcel Probleme mit seiner Schaltung hatte und am Straßenrand stand, bis Thomas vorbeikam.

Gemeinsam fuhren sie dann in unsere Gruppe und wir fuhren zum Schlussanstieg. Der war acht Kilometer lang und gerade als wir im unteren Bereich waren, hörten wir, der Sieger sei angekommen. Ich rechnete mir aus, dass ich aufgrund der Karenzzeit von 30 Prozent noch eine gute Stunde haben würde, um den Berg hochzufahren. Diese nutzte ich nicht ganz aus, was aber nur daran lag, dass ich nicht hätte langsamer fahren können ohne umzufallen aufgrund der heftigen Steigung im oberen Bereich.

Wir alle erreichten das Ziel, Oli auf Rang 18. Ich denke, wir haben noch das Beste daraus gemacht. Wäre uns etwas mehr Vorsprung zugestanden worden und hätte Oli keinen Defekt gehabt, wären wir nach dem Berg vielleicht noch besser aufgestellt gewesen und hätten etwas mehr machen können.

Aber wie Lothar Matthäus schon sagte: "Wäre, wäre, Fahrradkette."

Bis morgen und liebe Grüße
Hermann

Mehr Informationen zu diesem Thema

15.08.2022Im Schlussanstieg musste sogar das Auto geschoben werden

(rsn) - Wie gestern schon erwähnt, ging es heute (Sonntag) nach kurzer Fahrt direkt in den Passanstieg zum Vulkan. Jeder wusste, dass die heutige Etappe entscheidend sein würde im Kampf um das Gesam

13.08.2022Der Bus wird von Tag zu Tag leerer

(rsn) - Als wir gestern einschliefen, hatten wir uns schon immens gefreut, etwas länger schlafen zu können, da der Bus erst um 9 Uhr abfahren sollte. Dieser Bus transportiert übrigens von Tag zu Ta

12.08.2022Gruppetto-Bildung im Stile eines Puppenspielers

(rsn) - Marcel Peschges scheint einfach ein Händchen für spektakuläre Starts bei TV-Beteiligung zu haben. Im Höhenprofil war es nicht so ganz deutlich eingezeichnet, aber auch heute ging es wieder

10.08.2022Was ist schon Paris-Roubaix im Vergleich zur Tour de Guadeloupe?

(rsn) - Das Tolle an Rundfahrten wie dieser sind auch der rege Austausch mit anderen Teams und die Begegnungen mit alten Bekannten. So fährt Matias Fitzwater, ein Neuseeländer, der 2019 mit uns als

09.08.2022Zu erschöpft? Von wegen!

(rsn) - Wieder einmal klingelte um 6 Uhr der Wecker, allerdings war es heute der erste Morgen, an dem ich mich nochmal auf die andere Seite gedreht habe und erst später zum Frühstück kam. Auch am B

08.08.2022“Da wird niemand mehr kommen, fahr´ einfach!“

(rsn) - Wie jeden Morgen klingelte auch heute um 6 Uhr der Wecker und wir begaben uns auf zum Frühstück. Danach ging es dann zum Verladen der Räder – im strömenden Regen. Somit wurden wir auch

07.08.2022Ich hatte den Sieg schon vor Augen

(rsn) - Hallo zusammen, heute stand nach dem gestrigen Auftaktzeitfahren die erste Straßenetappe der Tour der Guadeloupe (2.2) an. Diese wurde auf dem östlichen Inselteil über 156 Kilometer ausget

06.08.2022Wir sind nicht nur zum Baden gekommen

(rsn) - Hallo zusammen, ich darf euch die nächsten Tage von unseren Erlebnissen bei der Tour Cycliste International de la Guadeloupe (2.2) berichten. Die Tour wird über zehn Etappen und insgesamt 1

Weitere Radsportnachrichten

23.04.2024Radsport live im TV und im Ticker: Die Rennen des Tages

(rsn) – Welche Radrennen finden heute statt? Wo und wann kann man sie live im Fernsehen oder Stream verfolgen? Und wo geht´s zum Live-Ticker? In unserer Tagesvorschau informieren wir jeden Morgen

23.04.2024Pogacar: “Ich kann noch etwas besser werden“

(rsn) – Nach seinem überragenden Auftritt bei Lüttich-Bastogne-Lüttich, wo er sich mit einem 35-Kilometer-Solo zum zweiten Mal nach 2021 den Sieg sicherte, verbringt Tadej Pogacar (UAE Team Emira

23.04.2024Del Toro verlängert bei UAE Emirates vorzeitig bis Ende 2029

(rsn) - In unserem ständig aktualisierten Transferticker informieren wir Sie regelmäßig über Personalien aus der Welt des Profiradsports. Ob es sich um Teamwechsel, Vertragsverlängerungen oder RÃ

23.04.2024Zijlaard fliegt am schnellsten um die 13 Kurven von Payerne

(rsn) – Maikel Zijlaard (Tudor) hat seinem Ruf als Spezialist für sehr kurze Prologe alle Ehre gemacht und in Payerne das 2,3 Kilometer lange Auftaktzeitfahren der 77. Tour de Romandie gewonnen.

23.04.2024Berlin nach Kraftakt in der Gruppe, Dorn verteidigt Weiß

(rsn) - Während Rembe Sauerland bei der Tour of Türkiye (2.Pro) erstmals die Gruppe des Tages verpasste, konnte das Team Bike Aid auch auf der 3. Etappe einen Fahrer in der hart umkämpften Fluchtg

23.04.2024Highlight-Video der 3. Etappe der Türkei-Rundfahrt

(rsn) – Für Bora – hansgrohe will es bei der 59. Türkei-Rundfahrt einfach nicht laufen. Auch auf der 3. Etappe über 147 Kilometer zwischen Fethiye und Marmaris ging das Raublinger Team leer aus

23.04.2024Zu früh gefreut: Van Poppel zurückgesetzt, Lonardi Etappensieger

(rsn) – Nachdem es an den ersten beiden Tagen der 59. Türkei-Rundfahrt (2.Pro) nicht nach Wunsch gelaufen war, schien bei Bora – hansgrohe auf der 3. Etappe der Knoten geplatzt. Danny van Poppel

23.04.2024Tour de Romandie im Rückblick: Die letzten zehn Jahre

(rsn) - Die sechstägige Tour de Romandie (2.UWT) hält traditionell für jeden Fahrertypen etwas bereit. Ob Kletterer oder Zeitfahrspezialisten, Sprinter oder Klassikerjäger - sie alle bekommen ihr

23.04.2024Tour de France Femmes ohne Vorjahreszweite Kopecky

(rsn) – Die Vorjahreszweite Lotte Kopecky (SD Worx-Protime) wird auf die am 12. August in Rotterdam beginnende 3. Tour de France Femmes verzichten. Stattdessen wird sich die Weltmeistern auf die Oly

23.04.2024Kletterspektakel mit gehörigem Zeitfahr-Einschlag

(rsn) – Die Tour de Romandie war einst die letzte große und wichtige Vorbereitungs-Rundfahrt für den Giro d´Italia. Giro-Favoriten entschieden sich damals zwischen der Schweizer Rundfahrt und dem

23.04.2024Startliste zum Prolog der 77. Tour de Romandie

(rsn) – Der Schweizer Nationalfahrer Luca Jenni eröffnet um 14.50 Uhr den Prolog zur 77. Tour de Romandie (2.WWT). Der nur 2,3 Kilometer lange Parcours von Payerne ist zwar bretteben, dürfte mit s

22.04.2024Highlight-Video der 2. Etappe der Türkei-Rundfahrt

(rsn) – Max Kanter (Astana Qazaqstan) hat nach der 2. Etappe der 59. Türkei-Rundfahrt (2.Pro) seinen ersten Profisieg bejubeln können. Der 26-jährige Deutsche setzte sich über 190 Kilometer von

RADRENNEN HEUTE

    WorldTour

  • Tour de Romandie (2.UWT, SUI)
  • Radrennen Männer

  • Presidential Cycling Tour of (2.Pro, TUR)