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31.07.2023 | (rsn) - Als Annemiek van Vleuten (Movistar) den Zielstrich in Pau erreichte, stand es quasi fest: Die Titelverteidigerin würde diesmal nicht auf dem Podium der Tour de France landen. Lotte Kopecky (SD Worx) hatte sie im abschließenden Zeitfahren in Pau deutlich vom dritten Platz verdrängt und auch Kasia Niewiadoma (Canyon – SRAM) war schneller als die Niederländerin – die Polin würde ihren Vorsprung von 38 Sekunden nicht mehr einbüßen.
Doch, wie heißt es so schön, im Moment der Niederlage zeigt sich wahre Größe. Und van Vleuten hat genau diese in der vergangenen Woche in Frankreich bewiesen – mehrmals. Hätte sie sich vor einem Jahr in ähnlichen Situationen noch frustriert im Mannschaftsbus versteckt und, wenn überhaupt, dann mit aufgesetztem Lächeln der Konkurrenz gratuliert und wäre Interviews komplett aus dem Weg gegangen, so erlebte man die 40-Jährige nun von einer völlig neuen Seite.
Am Col du Tourmalet vollzog sich die Wachablösung: Annemiek van Vleuten (Movistar) war chancenlos gegen die Attacke ihrer großen Herausforderin Demi Vollering (SD Worx) | Foto: Cor Vos
Van Vleuten sprach ganz offen über ihre Schwäche, erkannte die Unterlegenheit gegen Demi Vollering (SD Worx) ohne zu zögern an und stand gerade im schwersten Moment, nämlich im Nebel auf dem Col du Tourmalet, sehr geduldig und lange auf dem Gipfel, gab Interviews und schien das Ende ihrer Regentschaft fünf Monate vor ihrem Karriereende regelrecht aufzusaugen.
___STEADY_PAYWALL___"Natürlich bin ich enttäuscht. Ich hatte gehofft, einen besseren Tag zu haben", gab sie am Tourmalet bereits mit einem Lächeln im Gesicht zu. Keine Spur von der Bitterkeit, die man in den wenigen Momenten der Niederlage in ihrer Karriere beobachtet hatte. Van Vleuten erklärte, dass sie am Aspin attackiert hatte, um ihre Ausdauerstärke auszuspielen, und gestand, dass dieser Plan mit den schlechten Beinen, die sie an diesem Tag hatte, im Nachhinein nicht der Beste gewesen sei. "Dafür musste ich dann bezahlen. Aber ich fahre eben mit meinem Herzen und man muss sich auf seine Stärken konzentrieren. Normalerweise ist meine Ausdauer ja meine Stärke", erklärte sie.
Die 40-Jährige erlebte 2.110 Meter über dem Meer am Gipfel des Tourmalet, wie ihre große Kontrahentin und nun endgültig auch Nachfolgerin auf dem Thron der Rundfahrt- und Kletterkönigin eben jenen bestieg und das Maillot Jaune überstreifte. Sicher: So ganz freiwillig stand van Vleuten dort nicht, um sich das anzuschauen. Ihr Rad war beim Technik-Check in Sachen 'mechanical doping', so dass sie gar nicht anders konnte, als zu warten, bevor sie in Richtung Tal aufbrach. Doch ihre Körpersprache und auch die Worte aus ihrem Mund waren eindeutig: Sie haderte nicht, war nicht beleidigt, sondern akzeptierte, dass Vollering nun die Stärkere ist.
Nicht mal die kontroverse Situation, als die beiden Niederländerinnen in der Abfahrt vom Aspin hinter der enteilten Niewiadoma die Zusammenarbeit verweigerten, rang van Vleuten am Gipfel noch negative Töne ab. "Demi hatte einen Punkt: Sie hatte noch zwei Teamkolleginnen in der Gruppe hinter uns", gab sie Vollering Recht und sagte dann das Entscheidende: "Heute war es offensichtlich, dass Demi auf einem anderen Level war."
Im abschließenden Zeitfahren von Pau büßte die Titelverteidigerin dann sogar noch ihren dritten Rang im Gesamtklassement ein. | Foto: Cor Vos
Während Vollering 22 Stunden später im wohl besten Zeitfahren ihres Lebens noch Tageszweite auf der Schlussetappe wurde – nur zehn Sekunden hinter Zeitfahr-Ass Marlen Reusser – rutschte van Vleuten sogar noch vom dritten auf den vierten Gesamtrang ab, als Tages-14. im Kampf gegen die Uhr. Das letzte Mal, dass van Vleuten in einem Einzelzeitfahren zuvor nicht in den Top Ten landete, war am 15. Januar 2017 bei der Tour Down Under in Australien. In den sechseinhalb Jahren danach landete sie bei 31 Anläufen nur ein einziges Mal nicht in den Top 5.
Doch auch in Pau änderte sich nichts am Auftreten der "neuen" van Vleuten: radsport-news.com wartete am Mannschaftsbus auf die Niederländerin – in der Erwartung, dass sie dort möglichst schnell hinkommen würde.
Doch sie kam und kam nicht, denn van Vleuten blieb lange auf der Zielgeraden stehen, ließ sich von ihrem Team dort feiern, verdrückte die eine oder andere Träne und trat dann – völlig freiwillig, denn das mussten nur die Trikotgewinnerinnen tun – den Weg in die Mixed Zone an, um den dort wartenden Journalisten und Journalistinnen Rede und Antwort zu stehen. So lange, wie diese wollten. Sie sprach darüber, wie froh sie über die Entwicklung des Frauen-Radsports sei, seit sie vor über 13 Jahren Profi geworden war.
Ein Grand-Tour-Podium ohne van Vleuten: (v.l.) Lotte Kopecky, Demi Vollering (beide SD Worx) und Kasia Niewiadoma (Canyon – SRAM) belegten bei der Tour de France Femmes die ersten drei Plätze. | Foto: Cor Vos
Und sie erklärte: "Ich habe gestern und heute alles gegeben, aber ich hatte einfach nicht mein Level. Gestern nach dem Rennen habe ich schon etwas meinen Magen gespürt und auch heute Morgen war ich nicht ich selbst. Aber es ist wie es ist. So wie ich mich gestern gefühlt habe, war mir klar, dass es schwer sein würde, sich davon zu erholen. Ich habe es trotzdem versucht." Anstatt Niewiadomas zweiten Gesamtrang anzugreifen, was viele erwartet hatten, verlor van Vleuten ihren dritten Rang. Doch dass sie danach mit feuchten Augen vor den Kameras stand, hatte mit der Niederlage kaum zu tun.
"Ich war vor allem wegen meinen Teamkolleginnen emotional. Es war so eine schöne Geste, dass sie dort waren. Sie haben die ganze Woche so hart für mich gearbeitet und dann im Ziel so herzlich von ihnen empfangen zu werden, das zeigt was für eine gute Zeit ich dort in den zwei Jahren hatte. Und das hat mir auch mein Teamchef gesagt: Auch wenn diese Tour etwas enttäuschend für mich persönlich ist, ändert das nichts. Außerdem haben wir ja zwei Etappen gewonnen", sagte van Vleuten.
Das Movistar-Team um die Etappensiegerinnen Liane Lippert und Emma Norsgaard empfing die Niederländerin noch im Zielbereich mit Sprechchören: "Annemiek, Annemiek, Annemiek", riefen sie – und: "Champion!"
Sportlich, rein physisch, war van Vleuten das seit Jahren: ein Champion. Gesamtsiege bei allen großen Rundfahrten, WM-Titel auf der Straße und im Zeitfahren, ein Olympiasieg im Zeitfahren 2021 und Siege bei der Flandern-Rundfahrt sowie bei Lüttich-Bastogne-Lüttich lassen daran keinen Zweifel.
Dennoch gewann van Vleuten zwei der drei großen Rundfahrten dieser Saison: Im Mai die Vuelta Femenina, im Juni den Giro Donne (Foto). | Foto: Cor Vos
Erst 2016 entwickelte sie sich übrigens zu der starken Bergfahrerin, als die sie allein in Erinnerung bleiben wird. Bei den Olympischen Spielen in Rio ließ sie damals bergauf alle Kontrahentinnen stehen und schien auf dem Weg zu Gold, bis sie in der Abfahrt zum Ziel schwer stürzte. In den Jahren danach wurde sie zur besten Bergfahrerin der Welt – bis 2021 noch Kopf an Kopf mit Anna van der Breggen, 2022 nach van der Breggens Karriereende dann völlig unangefochten. Van Vleuten gewann in einem Jahr Giro, Tour und Vuelta.
Seit Saisonbeginn 2023 aber zeichnete sich der Machtwechsel ab: Vollering kam bärenstark aus dem Winter, dominierte bei den Ardennenklassikern und kletterte auch bei der Vuelta Anfang Mai bereits klar stärker als van Vleuten. Einzig ein schlecht getimeter Toilettenstopp kostete die 26-Jährige dort den Gesamtsieg und bescherte ihn van Vleuten. Die durfte dann beim Giro nochmal in vollem Umfang strahlen und in Vollerings Abwesenheit drei Etappen sowie das Rosa Trikot gewinnen. Doch bei der Tour nun wurde der Machtwechsel endgültig vollzogen.
Van Vleuten dürfte das in den vergangenen Monaten kommen gesehen haben. Und sicherlich hat ihr das dabei geholfen, die Niederlage in Frankreich nun so schnell so gut zu akzeptieren. Trotzdem blieb am Ende der Tour in Pau eben dieser eine Eindruck hängen: Van Vleuten tritt am Saisonende als Champion ab – weil sie nun verstanden hat, dass dazu mehr gehört, als nur die Stärkste auf dem Rad zu sein.