RSNplusGravel Quo vadis? - Teil 1

Warum zieht es so viele Straßen-Profis ins Gravel?

Von Jens Claussen

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Paul Voß (AUTSAID) als Vorreiter für die Professionalisierung des Gravel-Sports in Europa | Foto: Pierre Barton/Rose Bikes

27.12.2025  |  (rsn) – Als der Gravel-Sport vor etwa fünf Jahren nach Europa hinüber schwappte, hätten zunächst wohl nur wenige vermutet, in welcher Anzahl und vor allem mit welcher Bedeutung Gravel-Rennen nur wenige Jahre später auf nahezu allen Kontinenten dieser Erde stattfinden.

Ursprünglich Anfang der 2000er auf den endlosen Schotterstraßen des Mittleren Westens in den USA als Alternative zum Rennrad- und Mountainbikefahren entstanden, fanden Gravel-Wettbewerbe anfänglich überwiegend als sogenannte “unsupported” Rennen statt. Immer mit dergleichen Charakteristik: auf langen, einsamen Straßen, die nicht abgesperrt waren; über Distanzen von mehreren hundert Kilometern - mit heute noch in der Szene bekannten Namen wie “Dirty Kanza” (jetzt “Unbound”),“Trans Iowa” oder “Belgian Waffle Ride“. ___STEADY_PAYWALL___

Paul Voß, Role Model für andere Gravel-Profis

Einer der ersten aus dem internationalen Straßenradsport bekannten Profis, der professionell vom Asphalt auf den Kies wechselte, war Paul Voß. Voß fuhr 2016 noch für Bora – Argon 18, dem Vorläufer von Red Bull - Bora - hansgrohe, ehe es ihn nach seinem Karriereende 2016 in die sportliche Leitung zog. Zunächst im Jahr 2017 beim Team Wiggins, um von 2018-2020 beim LKT Team Brandenburg anzuheuern. Dem aktiven Rennenfahren noch nicht müde, traf er dann im Jahr 2020 eine für europäische Gravel-Profis wegweisende Entscheidung.

Paul Voß im Bergtrikot der Tour de France 2016 | Foto: Cor Vos

“Als ich während Corona viel Zeit mit mir selbst hatte, habe ich gemerkt, dass der Ausstieg aus dem Profi-Radsport im Jahr 2016 doch vielleicht etwas zu früh für mich war. Das war letztendlich auch der Grund, mit dem professionellen Gravel zu beginnen, mögliche Sponsoren zu kontaktieren und dann 2021 meine erste volle Gravel-Saison zu bestreiten“, erinnerte er sich im Gespräch mit RSN an seine Transformation von der Straße auf den Schotter.

Nahezu zeitgleich fällte der Niederländer Laurens ten Dam, der als größten Karriereerfolg im Jahr 2014 die Tour de France (1.UWT) als Neunter im Gesamtklassement beendete, eine ähnliche Entscheidung. Voß blickte gerne auf die Zeit zurück, als er und ten Dam den professionellen Gravel-Sport im Gleichschritt in Europa salonfähig machten. “Laurens (ten Dam) und ich waren damals quasi die Einzigen in Europa, die Gravel auf internationalem Niveau betrieben haben“, erzählte er.

Inspiration aus den USA geholt

Ihre Inspiration, es als Gravel-Profi versuchen zu wollen, hatten sich die beiden in den USA geholt. Ten Dam, der 2002 im Rabobank Continental Team seine Laufbahn begann, wollte ursprünglich gar nicht solange als Straßenprofi fahren, wie er RSN im Interview verriet. “Ich hatte mir im Alter von 22, 23 Jahren vorgenommen, dass ich etwa nach zehn Jahren auf der Straße aufhören wollte. Ich bin dann 2016 mit meiner Familie für ein Jahr in die USA gegangen und nur noch ein abgespecktes Straßen-Programm in Europa gefahren. Da ich in den USA als WorldTour-Pro kaum an Rennen teilnehmen durfte, meinte mein Manager, ich solle es mal mit Gravel-Rennen probieren“, beschrieb er seinen Einstieg ins Gelände.

Laurens ten Dam war insgesamt 18 Jahre auf der Straße als Profi unterwegs. | Foto: Cor Vos

Diese Phase stellte, wie er meinte, einen Übergang zu mehr Sorgsamkeit mit sich selbst dar. Und brachte ihm gleichzeitig die Erkenntnis, wie viel mehr Freude ihm diese andere Art des Rennen Fahrens schenkte. “Wir haben uns in Amerika harte Rennen geliefert und saßen danach zusammen im Wald, aßen Chips und tranken Bier. Und, ich konnte abends wieder zu Hause sein und meine Familie sehen“, legte er die Vorzüge dar.

Wir, das waren unter anderen auch Peter Stetina und Ted King, von dessen Treiben in den USA auch Voß schon zur damaligen Zeit ziemlich “angezündet“ war, wie er zugeben musste. Grund genug für den Rostocker, im Jahr 2021 ein neues Kapitel aufzuschlagen und es fortan als Gravel-Pro zu wagen. “In dem Jahr war es zunächst so, dass ich über meinen Podcast Besenwagen und die Sponsoren meine Reisekosten und Startgelder gut abdecken konnte. Viel über blieb damals allerdings nicht. Ich würde dieses Jahr rückblickend als Überbrückungsjahr bezeichnen“, fasste er seine ersten Schritte zusammen.

Der Einzelsportler als Marke

“Danach nahm meine Gravel-Karriere dann richtig Fahrt auf“, erzählte er weiter, wie er sich letztendlich als Gravel-Pro etablieren konnte. “Ich habe viel investiert, nicht nur über Ergebnisse (Voß gewann im Jahr 2023 “The Traka“), sondern auch über meinen Podcast und als Kommentator bei der ARD. Damit hatte ich für Sponsoren nicht nur eine gewisse Strahlkraft als Ex-Straßen-Profi, sondern auch als Person. Ich konnte mich regelrecht als Marke platzieren.“

Voß bei der Gravel-WM | Foto: Cor Vos

Stand jetzt sei es so, dass immer mehr gute Fahrer und Fahrerinnen den Markt überfluten und es für den Einzelsportler schwieriger werde, hoch dotierte Sponsorenverträge zu generieren. “Da habe ich damals den richtigen Zeitpunkt erwischt. Hochbezahlte Einzelsportler werden immer weniger werden, es sei denn du heißt Keegan Swenson oder Rosa Klöser“, umriss er die aktuelle Situation für neue Fahrer auf dem Markt.

Einen ähnlichen Weg wie sein deutscher Wegbegleiter ging auch ten Dam. “Nach meinem letzten Jahr als WorldTour Pro 2019 beschloss ich ganz auf die Karte Gravel zu setzen und mich dort als Pro zu versuchen. Obwohl diese Entscheidung im Corona-Jahr 2020 fiel, ermöglichten mir meine Sponsoren Specialized und Shimano auch finanziell diesen Schritt. Mein Podcast (“Live slow, Ride fast“), den ich schon während meiner Straßenkarriere hatte, hat mir auch sicherlich geholfen, die richtigen Partner für meinen Start zu finden“, hielt auch er an der Tatsache fest, dass gut Rad zu fahren alleine nicht genüge, um mit dem Gravel-Sport ein auch finanziell entspanntes Leben führen zu können.

Ten Dam hat inzwischen seine Aktivitäten auf Ultradistanz-Gravelrennen verlegt. | Foto: Cor Vos

“Frauen haben die gleiche Sichtbarkeit“

Eine Profi-Gravelerin, die es Voß zwei Jahre später gleichtat, ist die Bremerin Carolin Schiff. Auch sie fuhr in den Jahren 2021 und 2022 semiprofessionell auf der Straße; in der KT-Mannschaft eines ehemaligen Toursiegers, dem Kontinental-Team Andy Schleck - NVST. Ohne davon leben zu können, wie die heute 39-Jährige auf Anfrage von RSN erzählte.

“Ich hatte den Gravel-Sport schon immer ein wenig aus dem Hintergrund beobachtet und war während meiner Straßenzeit im Winter ja auch im Cyclo-Cross unterwegs (Anm.: Schiff war 2021 Deutsche Vizemeisterin im Cross und gewann im selben Jahr dort auch die Bundesligawertung). Schon damals merkte ich, dass mir das Off-Road fahren sehr viel Spaß macht“, erinnerte sie sich an die Zeit, als die Überlegung in ihr wuchs, sich von der Straße abzuwenden. “Als mich dann mein damaliger Arbeitgeber (Anm: Schiff war während ihrer Zeit im Schleck-Team noch parallel für einen Teilehersteller in der Fahrradindustrie erwerbstätig) auf ein Gravel-Event schickte, bin ich einfach mal mitgefahren“, erinnerte sie sich an ihr erstes Rennen auf dem Gravelbike.

Carolin Schiff in ihrer Zeit als Straßenfahrerin | Foto: Cor Vos

Das Bohemian-Border-Bash war damals das erste Gravel-Rennen seiner Art in Europa und Schiff entschied sich ad hoc bei der 330 Kilometer Distanz an den Start zu gehen – als einzige Frau damals. “Das hat mir unglaublich viel Spaß gemacht und ich stellte sofort fest, dass mir die langen Distanzen liegen“, meinte sie rückblickend. All das datiert aus dem Jahr 2022, in dem sich Schiff beim Amstel-Gold-Race derart schwer verletzte, dass danach ihr Entschluss feststand. “Ich beschloss, mit dem Straßenrennsport aufzuhören und Gravel als Hobby zu betreiben.“ Der Gedanke, die noch junge Sportart einmal als Profession auszuüben, schien ihr zu dem Zeitpunkt völlig abwegig.

Als wenig später Canyon auf der Suche nach einer deutschen Frau war, die für das Unternehmen Gravel-Rennen fahren könnte, an Schiff herantrat, öffnete sich plötzlich eine Tür. “Das war wie ein Traum für mich, die wollten mir nicht nur Räder stellen, sondern mich auch gleich bezahlen“, schwärmte sie noch heute. “Canyon wollte 2023 das Modell "Grail" herausbringen und parallel dazu ein kleines Team mit Jasper Okeloen und mir aufbauen, das das Rad mit guten Ergebnissen in Europa und Übersee promoten sollte”, erklärte sie die Motivation des Weltkonzerns, in Schiff und Okeloen zu investieren.

Schiff gewinnt zu ihrer eigenen Überraschung Unbound 2023. | Foto: instagram.com/carolinschiff

Selbst und ständig

Canyon CLLCTV wurde dieses Mini-Team genannt, in dem die beiden Profis zunächst als Privatiers agierten. “Wenn ich das Unbound gewinne, kündige ich komplett meinen Job”, sagte die spätere Siegerin im Jahr 2023 eher aus Spaß zu Voß. Und genau so kam es. Schiff feierte mit dem Sieg auf der 200 Meilen Strecke einen für sie bahnbrechenden Erfolg, der ihr neben dem Canyon-Kontrakt weitere lukrative Sponsorenverträge einbrachte. Generell stünden die Frauen in Punkto Sichtbarkeit und Verdienstmöglichkeiten, anders als im Straßenrennsport, "den Männern in Nichts nach“, verriet sie. Sie selbst könne mittlerweile als Voll-Profi gut von ihrem Sport leben.

Einen ganz anderen Verlauf nahm der Einstieg in den Gravel-Sport bei Mieke Kröger, die elf Jahre als Straßenprofi fuhr. Nach ihrem Karriereende im Jahr 2023 beim WorldTeam Human Powered Health konzentrierte sich die Bahn-Olympiasiegerin von Tokio 2021 (Mannschaftsverfolgung) auf ihre berufliche Laufbahn bei der Bundeswehr – und ihre eigentliche Leidenschaft, den Bahnradsport im National-Team. Die Bekanntgabe des Gravel-Teams Rose Racing Circle, Kröger für die Saison 2026 an Bord geholt zu haben, kam deshalb ein wenig überraschend.

“Als Gravel-Pro würde ich mich für das kommende Jahr aber nicht bezeichnen, da es immer noch mein Job ist, für die Bundeswehr auf der Bahn zu fahren (Anm.: Krögers großes Ziel sind die Bahnwettbewerbe der Olympischen Spiele 2028)“, meinte die 32-Jährige zu RSN. Ihr Schritt in eine Gravel-Struktur kam eigentlich eher zufällig, wie sie meinte. “Ich bin quasi als Stagiaire mal aus Spaß in diesem Sommer das Zuricrit für das Team gefahren. Das hat mir dann so eine Freude bereitet, dass ich dachte, ich könnte da auch komplett anheuern“, lachte sie. “Ob und in welcher Höhe ich Zuwendungen durch das Team erhalte, dazu möchte ich nichts sagen“, ließ Kröger hingegen offen, in welcher Form ein finanzieller Aspekt eine Rolle für ihre Entscheidung gespielt haben könnte.

Mieke Kröger fährt im Jahr 2026 zweigleisig auf Bahn und Schotter. | Foto: Cor Vos

Mindestens so viel Training wie als WorldTour-Profi

Diesen hatte Lukas Pöstlberger, ebenfalls im Aufgebot von Rose Racing Circle, anfänglich nicht im Auge. Der Österreicher wollte eigentlich gerne 2024 als Straßen-Profi weiterfahren und hatte von seinem damaligen WorldTeam Jayco - AlUla auch bereits eine mündliche Zusage. “Doch dann hatte ich plötzlich den falschen Reisepass, als das Team Caleb Ewan verpflichtete und ich weichen musste”, meinte er gegenüber RSN leicht sarkastisch. “Da ich aber über den ganzen Winter trainiert hatte, wollte ich meine gute Form nutzen."

Da kam das Angebot von Rose-Mitarbeiter Bastian Marks, mit dem er freundschaftlich verbunden war, mal auf einem Rose Bike ein Gravel-Rennen zu fahren, zur rechten Zeit. “Mir hat diese sehr ursprüngliche Art des Rennenfahrens gefallen. Dieses: Achtung, fertig, los; nur Vollgas und am Ende last man standing”, beschrieb er seine sofortige Faszination für den Sport. Der Weg über das Unternehmen Rose zum Team Rose Racing Circle war dann nicht mehr weit. Dort ist Pöstlberger als Selbstständiger gemeldet und wird laut eigener Aussage kostendeckend vom Team bezahlt.

Lukas Pöstlberger saß den Großteil seiner Straßenkarriere für das Team Bora – hansgrohe im Sattel. | Foto: Cor Vos

Ähnlich wie Kollege Voß es vormachte, baut sich der 33-Jährige über seine Tätigkeit als TV-Experte und Fitnesscoach zusätzliche Standbeine auf. Ob es noch zu einem Voll-Profitum als Graveler reicht, werde die Zukunft zeigen, so Pöstlberger. “Ich denke, dass ich den Gravel-Sport auf hohem Niveau vielleicht noch drei, vier Jahre betreiben werde und in dieser Zeit versuche, von dem Geld, das mehr und mehr in diesem Sport kursiert, zu partizipieren”, blickte er voraus. Verdienstmöglichkeiten, die seiner Meinung nach auch durch Preisgelder bei UCI-Rennen ergänzt werden könnten. Denn eines steht für Pöstlberger fest: “Der Aufwand, den wir betreiben, um bei UCI-Rennen ganz vorne mitfahren zu können, ist immens und gleicht dem zu meiner Zeit als WorldTour-Profi. Das sollte dann auch über Preisgelder honoriert werden”, zeigte er eine noch bestehende Lücke im System auf.

Verdienstmöglichkeiten über dem Mindestgehalt in der WorldTour

Auch wenn mehr und mehr ehemalige, aber auch aktuelle Straßen-Pros ins Gravel abdriften, steckt die Professionalisierung dieses Sports noch in den Kinderschuhen. Dies spiegele sich auch in den Verdienstmöglichkeiten eines Großteils der Akteure wider, die voll auf die Karte Gravel setzen, klärte Voß auf. “Es gibt aber gerade perspektivisch über die sich neu etablierenden Teams die Möglichkeit, ein Einkommen zu generieren. Zudem kenne ich eine Vielzahl an Fahrern und Fahrerinnen in Europa, die aktuell schon sechsstellige Summen verdienen”, verriet er. Er selbst liege in einem ähnlichen Bereich und hat damit ein höheres Einkommen als ein WorldTeam-Profi mit einem aktuellen Mindestgehalt von 72.404 Euro als selbstständiger Fahrer.

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