Mein Radsport-Ereignis 2016: 19. Giro-Etappe

Drama am Colle dell´Agnello

Von Thomas Goldmann

Foto zu dem Text "Drama am Colle dell´Agnello "
Vincenzo Nibali (Astana) gewinnt die 19. Giro-Etappe in Risoul | Foto: Cor Vos

26.12.2016  |  (rsn) - Vor den letzten beiden Bergetappen des Giro d'Italia 2016 schienen die Trauben bereits verteilt. Kaum jemand hätte noch damit gerechnet, dass die Gesamtwertung einen derartig dramatischen Umsturz erfahren würde. Steven Kruijswijk hatte im Kampf um das Rosa Trikot einen Vorsprung von drei Minuten auf Esteban Chaves, 3:23 auf Alejandro Valverde und gar 4:43 auf Vincenzo Nibali.

Auf dem Weg nach Risoul war es dann allerdings dem Offensiv-Geist von Chaves und Nibali zu verdanken, dass das Klassement der Italien-Rundfahrt „neu gemacht“ wurde.

Bei der Auffahrt zum 2.744 Meter hohen Colle dell'Agnello brachte Chaves mit seinem Orica-Team das Rennen zum Explodieren. Der Kolumbianer sprengte die Favoritengruppe mit zwei Antritten. Nibali machte kurz vor dem Gipfel Tempo und hielt den Druck auf Kruijswijk in der Abfahrt aufrecht.

Und dann war es passiert: Nibali und Chaves fuhren auf der letzten Rille durch eine Linkskurve, Kruijswijk versteuerte sich und landete in einer Schneewand. Sein Rad war kaputt und der Giro-Sieg wieder in der Verlosung.

Die beiden Angreifer zogen ihre Aktion in der Abfahrt weiter, bekamen durch ihre Teamkollegen Rubén Plaza und Michele Scarponi Hilfe, während Kruijswijk in Panik geriet. Keine Teamkollegen in Sicht, dazu musste der Niederländer lange warten, ehe er eine neue Rennmaschine bekam. Bis zum Fuße des Schlussanstiegs nach Risoul hatte der Träger des Rosa Trikots über zwei Minuten auf seine Rivalen verloren. Nibali ergriff die Initiative, hängte Chaves ab und feierte ein kaum mehr für möglich gehaltenes Comeback.

Am Ende eines denkwürdigen Tages schlüpfte Chaves erstmals in seiner Karriere in das Maglia Rosa, Nibali hatte fast fünf Minuten in der Gesamtwertung aufgeholt, und der Giro erlebte einen Umsturz, wie es ihn lange nicht mehr gegeben hatte.

Selten zuvor schrieb eine einzelne Etappe so viele Geschichten, selten zuvor zeigte der Radsport an einem einzigen Tag alle seine Facetten - die schönen wie die brutalen. Kruisjwijk verlor auf dramatische Art und Weise sein Rosa Trikot und musste erkennen, wie grausam der Radsport sein kann. Ein Fahrfehler kostete ihn den größten Sieg seiner Karriere. Womöglich wäre ihm das mit einer besser besetzten Mannschaft nicht passiert. Aber so musste der 29-Jährige alle Attacken selbst parieren und hatte keinerlei Unterstützung nach seinem Sturz.

Die neben Nibali zweite große Nummer dieses Tages war Chaves. Der Südamerikaner wurde für seinen Mut mit dem Rosa Trikot belohnt. Am folgenden Tag zeigte sich, dass es in diesem Jahr noch eine Nummer zu groß für ihn war. Trotzdem ist dies eine der wundervollen Geschichten, wie sie nur der Radsport schreibt. Schließlich hätte vor drei Jahren wohl niemand mehr einen Cent auf Chaves gesetzt, nachdem er bei der Trofeo Laigueglia schwer gestürzt war und seine Karriere auf dem Spiel stand.

Und dann war da ja noch Nibali, der zunächst weit hinter den Erwartungen zurückblieb und in seiner Heimat hart kritisiert wurde. In über 2.000 Metern Höhe wurde der Sizilianer am Colle dell'Agnello zunächst abgehängt, fasste aber neuen Mut und unternahm einen letzten Versuch, dieses Italien-Rundfahrt noch aus dem Feuer zu reißen.

Es war ein Angriff, auf den ganz Italien fast drei Wochen sehnsüchtig gewartet hatte. Sein Unterfangen gelang vor allem aufgrund von Kruijswijks Missgeschick, aber die filmreife Inszenierung dieses Rennens war dem Mut von Nibali und Chaves zu verdanken, zweier Fahrer, die sich in einem zunehmend roboterhaften Radsport nicht scheuten, zu unkonventionellen Taktiken zu greifen und alles auf eine Karte zu setzen. Das Sprichwort "lieber vorne sterben als hinten nichts erben" trifft hier auf besonders beeindruckende Weise zu. 

Fünf Kilometer vor dem Ziel ließ der Giro-Sieger von 2013 seinen Begleiter Chaves stehen und stürmte solo dem Etappensieg entgegen. Nach seinem Triumph brach der sonst so nüchterne Nibali in Tränen aus. Nicht nur, weil er gerade eines der unglaublichsten Comebacks der Radsport-Geschichte hingelegt hatte, sondern auch, weil wenige Tage zuvor Rosario Costa, der im Nachwuchsteam von Nibali fuhr, ums Leben gekommen war. Der Sizilianer war im Gedanken bei Rosario und widmete seinen Sieg in Risoul dem tragisch verunglückten Nachwuchssportler.

Der 27. Mai 2016 ist und bleibt für mich ein Tag, an den man sich noch in Jahren erinnern wird. Schließlich hatte es solch einen Umsturz der Gesamtwertung kurz vor dem Ende einer großen Rundfahrt schon lange nicht mehr gegeben. Wenn auch für viele das bittere Schicksal von Steven Kruijswijk hängen blieb, so war dies nur möglich, weil Chaves und Nibali eine verwegene Attacke ritten - eine Tugend, die im modernen Radsport viel zu selten zu finden ist.

Mehr Informationen zu diesem Thema

29.12.2016Ein Berg. Ein Radprofi. Kein Rad!

(rsn) - Wann kann man sich sicher sein, dass ein Radsport-Ereignis wirklich ein Ereignis und nicht "nur" ein packendes Rennen, eine kuriose Szene oder ein bewegender Augenblick war? Ganz einfa

28.12.2016Champs-Élysées-Triumph mit viel Kraft und Willen

(rsn) – Die Vorzeichen standen gut für André Greipel, auch von seiner sechsten Tour de France en suite mit einem Etappensieg im Gepäck ins heimische Hürth zurückzukehren. Der Kapitän des Lotto

28.12.2016Peter Sagan: Back to the Roots

(Ra) - Peter Sagan in Rio auf dem Moutainbike - da hat sich so mancher doch gewundert... Aber Sagans Wurzeln im Radsport sind auf dem Bergrad gewachsen: Als Siebenjähriger startete er bei einem slowa

25.12.2016Noch immer der König der Zielgeraden

(rsn) - Man hatte ihn schon abgeschrieben. Ihn, den ehemaligen Straßenweltmeister, einen der besten Sprinter der Radsportgeschichte. "Er wird nicht mehr jünger“, sagten die einen. "Das Siegen hat

24.12.2016"Rambazamba“ im Konvoi

(rsn) – Nach dem gestrigen Ruhetag ging es in die entscheidende Phase der Vuelta. Heute führte die Strecke wieder in höllischem Tempo über die Autobahn aus Alajuela raus. Die Attacken zogen das

24.12.2016Denkwürdiger Sieg für einen toten Teamkollegen

(rsn) – In Sachen Rennverlauf war die 51. keine besonders bemerkenswerte Austragung des Amstel Gold Race. Wie bereits in den vergangenen Jahren wurde der erste der drei Ardennenklassiker erst auf de

23.12.2016Die große Contador/Quintana-Show

(rsn) - Der aufregendste Tag der Vuelta 2016 war der 4. September. Auf der 15. Etappe, dem 119 Kilometer langen Teilstück mit Bergankunft am Arámon Formigal, entschlossen sich zwei der besten Bergf

22.12.2016Imposante Strecke, gespenstische Kulisse

(rsn) – Die Redaktionsmitglieder von radsport-news.com und radsport-aktiv.de sowie ihre freien Mitarbeiter und Helferlein haben 2016 rund um das Thema Radrennen viel erlebt. Sie alle blicken zum Ab

Weitere Radsportnachrichten

26.04.2024Radsport live im TV und im Ticker: Die Rennen des Tages

(rsn) – Welche Radrennen finden heute statt? Wo und wann kann man sie live im Fernsehen oder Stream verfolgen? Und wo geht´s zum Live-Ticker? In unserer Tagesvorschau informieren wir jeden Morg

25.04.2024Highlight-Video der 2. Etappe der Tour de Romandie

(rsn) – Thibau Nys (Lidl – Trek) hat auf der 2. Etappe der Tour de Romandie (2.UWT) seinen bisher größten Sieg auf der Straße gefeiert. Der 21-jährige Belgier setzte sich über 171 Kilometer

25.04.2024Die Aufgebote für den 107. Giro d´Italia

(rsn) – Am 4. Mai beginnt in Venaria Reale nördlich von Turin mit dem Giro d’Italia (2.UWT) die erste Grand Tour des Jahres. Insgesamt 176 Fahrer aus 22 Teams nehmen die 107. Ausgabe der Italien-

25.04.2024Teutenberg jubelt zum Auftakt der Tour de Bretagne

(rsn) - Nachdem er in seinen ersten drei U23-Jahren vergeblich einem UCI-Sieg hinterhergejagt war, eilt Tim Torn Teutenberg (Lidl - Trek Future Racing) in dieser Saison von Erfolg zu Erfolg. Nach sei

25.04.2024Lechner sorgt für den ersten UCI-Saisonsieg einer Deutschen

(rsn) – Corinna Lechner vom Bundesliga-Team Wheel Divas aus Berlin hat für den ersten Saisonsieg einer deutschen Frau auf UCI-Niveau gesorgt. Die 29-Jährige, die am 14. April bereits Dritte beim e

25.04.2024Romandie-Prologsieger Zijlaard bricht sich Ellenbogen

(rsn) – Nur zwei Tage nach seinem Triumph im Prolog der Tour de Romandie (2.UWT) hat Maikel Zijlaard (Tudor) einen heftigen Rückschlag hinnehmen müssen. Wie der 24-jährige Niederländer gegenüb

25.04.2024Bike-Aid: Dorn hat in der Türkei das Bergtrikot “ziemlich save“

(rsn) – Das deutsche Kontinental-Team Bike Aid ist weiterhin der Aktivposten der Türkei-Rundfahrt (2.Pro). Am fünften Tag in Folge war die saarländische Equipe in der Ausreißergruppe vertreten

25.04.2024Nys krönt ersten Ausreißversuch der Karriere, Lipowitz Vierter

(rsn) – Ein 21-Jähriger Crossspezialist aus Belgien hat bei der Tour de Romandie (2.UWT) für die nächste Überraschung gesorgt. Thibau Nys (Lidl - Trek) entschied auf der 2. Etappe die erste Berg

25.04.2024Jakobsen gibt Andresen Grünes Licht für den zweiten Etappensieg

(rsn) – Tobias Lund Andresen (dsm-firmenich – PostNL) hat mit dem zweiten Tagessieg in Folge seine Führung in der Gesamtwertung der 59. Türkei-Rundfahrt (2.Pro) ausgebaut. Der 21-jährige Däne

25.04.2024Drei Bergankünfte, Sprints, Windkantengefahr & Teamzeitfahren

(rsn) – Nachdem die Spanien-Rundfahrt im vergangenen Jahr von Torrevieja an der Costa Blanca vorbei an Madrid in den Norden nach Asturien an den Atlantik und zur abschließenden Bergankunft an den L

25.04.2024Zwölf deutsche Profis auf vorläufiger Startliste des Giro d´Italia

(rsn) – Insgesamt zwölf deutsche Profis werden nach aktuellem Stand am 4. Mai den 107. Giro d’Italia in Angriff nehmen, wie aus der vom Veranstalter RCS Sport veröffentlichten vorläufigen Start

25.04.202422 Teams am Start der 3. Tour de France Femmes

(rsn) – Mit insgesamt 22 Teams wird am 12. August im niederländischen Rotterdam die 3. Tour de France Femmes (2.WWT) gestartet. Beim Grand Départ dabei sein werden auch die beiden deutschen Frauen

RADRENNEN HEUTE

    WorldTour

  • Tour de Romandie (2.UWT, SUI)
  • Radrennen Männer

  • Presidential Cycling Tour of (2.Pro, TUR)
  • Gracia Orlová (2.2, CZE)
  • Tour de Bretagne (2.2, FRA)
  • Tour of the Gila (2.2, USA)