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05.01.2015 | (rsn) – Als Claudia Lichtenberg von der Dopingkontrolle zum Parkplatz im Zielbereich der Deutschen Zeitfahrmeisterschaften in Baunatal zurücklief, war sie ruhig und gefasst, beantwortete geduldig alle Fragen von radsport-news.com und blickte trotz einer nicht zufriedenstellenden Leistung im nationalen Kampf gegen die Uhr – 7. Platz, 2:30 Minuten hinter Lisa Brennauer – mit offenbar guter Laune optimistisch ihrem Saisonhöhepunkt entgegen: dem Giro d’Italia, wo sie zum vierten Mal aufs Podium wollte.
Ein ganz normales Gespräch war das, und eigentlich nicht besonders erwähnenswert, wenn da nicht die dramatische Vorgeschichte wäre, die die Münchenerin damals noch nicht erzählte. „Ich wollte während der Saison nicht viel darüber sagen und mir ist es sehr wichtig, manche Dinge privat zu halten“, erklärt sie nun ein halbes Jahr später. „Aber mit ein bisschen Abstand fällt es mir leichter, darüber zu sprechen: Meine Mama ist im Juni verstorben.“
Dieser Satz zeigt, wie trügerisch die äußere Ruhe von Lichtenberg nach den Zeitfahrmeisterschaften war. Vor allem aber relativiert er alles, was in Lichtenbergs Saison 2014 passiert ist. Der sechste Platz beim Giro Mitte Juli ist einfach ein sechster Platz, und eben keine Enttäuschung. Es sei zwar „im ersten Moment ein bisschen bitter“ gewesen, nach der frühen Selektion eines Sextetts, das um den Sieg kämpfen würde, letztlich aus diesem heraus Letzte geworden zu sein. Und es war, wie sie damals dem Münchener Merkur sagte, „ein schmerzhaftes Gefühl“, als die anderen am Berg davonfuhren. Doch das sind die Aussagen einer Leistungssportlerin.
Vom Standpunkt eines Außenstehenden betrachtet, ist es beeindruckend, in welcher Verfassung sich Lichtenberg in Italien und sogar bereits Mitte Juni bei der Baskenland-Rundfahrt (Gesamtfünfte) präsentierte – oder eben bei den Deutschen Straßenmeisterschaften (10. Platz), als sie angriffslustig fuhr, anstatt sich trauernd im Feld zu verstecken. „Natürlich war es nicht einfach, den Rennalltag weiterlaufen zu lassen“, gibt Lichtenberg zu. „Aber meine Mannschaft hat sehr verständnisvoll reagiert und es war gut für mich, zur Normalität zurückzukehren.“
Normal ist in diesem Zusammenhang ein schwieriger Begriff, denn die 29-Jährige hatte schon lange nicht mehr den Alltag einer durchschnittlichen Studentin. Der Kampf ihrer Mutter gegen den Krebs dauerte Jahre und bestimmte selbstverständlich auch das Leben der Tochter mit. „Meine ganze Karriere läuft die Uni nebenher und macht speziell die Saisonvorbereitung im Winter schwieriger. Im letzten Jahr war diese Zeit besonders anstrengend, weil ich zusätzlich zum Prüfungsstress oft zwei Mal täglich meine Mama im Krankenhaus besucht habe. Das war aus Radsportsicht sicherlich nicht optimal, aus menschlicher Sicht aber schon“, so Lichtenberg.
Umso verblüffender, dass die Maschinenbau-Studentin trotzdem die nötige Form aufbauen konnte, um beim Giro ums Podium zu kämpfen und einen Monat später die Route de France zu gewinnen – der schönste Moment ihrer Saison. „Es war sicherlich nicht mein größter Sieg, aber mir persönlich hat er viel bedeutet“, erklärt sie. „Nicht nur, weil dieses Jahr schwierig war, sondern auch weil sich das Attackieren gelohnt hat und die Zusammenarbeit in meiner Mannschaft unglaublich schön war. Wir haben das ganze Jahr über an vielen Dingen gearbeitet – an der Kontrolle des Feldes, dem Sprintzug und so weiter – und jetzt plötzlich hat alles perfekt funktioniert.“
Neben Lichtenbergs Gesamtsieg, für den sie den Grundstein mit einem starken Solo im strömenden Regen bereits auf der 1. Etappe in Mouilleron en Pareds gelegt hatte, feierte Giant-Shimano in Frankreich zwei weitere Etappenerfolge durch Sprinterin Kirsten Wild. „Meine Mannschaft hat ein Feuerwerk abgebrannt und es hat einfach alles von alleine funktioniert“, blickt die 29-Jährige gerne zurück.
Der niederländischen Equipe, die im kommenden Jahr wie auch ihr Männer-Pendant um Marcel Kittel von der deutschen Wolff-Gruppe gesponsert wird und in Zukunft Liv-Plantur heißt, gehört Lichtenberg erst seit 2014 an. Sie fühlt sich dort aber sehr wohl und hat auch für 2015 unterschrieben. Die Zusammengehörigkeit mit dem Männer-Team sei ständig durch gemeinsame Trainingslager, die gleichen Trainingsprinzipien und den gleichen Ernährungsspezialisten spürbar, erklärt sie. „Besonders in Erinnerung ist mir eine Szene, in der uns Tom Veelers, der ‚Boss des Männersprintzugs‘, Feinheiten erklärte, die wir umsetzen sollten um Kirsten Wild zu helfen.“
Es mag ein schwarzer Schleier über Lichtenbergs Jahr 2014 liegen, doch die 29-Jährige zeigt auch, dass es für sie lebensfroh weitergeht. Eine Woche vor dem Tod ihrer Mutter heiratete sie ihren Freund Christian. Die standesamtliche Hochzeit hatten die beiden aus dem Oktober vorgezogen, „so dass meine Mama dabei sein konnte. Das hat ihr und uns sehr viel bedeutet“, erzählt Lichtenberg, die es selbst in diesem schweren Jahr schafft, die Frage nach dem Höhepunkt ihrer Saison mit folgendem Satz zu beantworten: „Es gab viele tolle Momente.“
Dazu gehörte auch die WM in Ponferrada, als Lichtenberg großen Anteil am Gewinn der Silber-Medaille von Brennauer im Straßenrennen hatte. Sie nämlich war es, die auf der letzten Abfahrt in Richtung Ziel und während des flachen Kilometers bis zur letzten Kurve die Verfolgergruppe unwiderstehlich an die vier Spitzenreiterinnen um Marianne Vos heranführte und so völlig selbstlos den Sprint um den WM-Titel ermöglichte.
„Oben auf der Kuppe war ich vor allem stinksauer mit mir selbst“, erinnert sie sich an den letzten Anstieg des Rennens. „Ich habe die Attacke verpasst, obwohl ich noch Körner übrig hatte. Das ist die Höchststrafe!“ Lichtenberg ließ sich von den US-Amerikanerinnen in der Abfahrt zunächst zu Brennauer nach vorne bringen und warf sofort den Blick weiter voraus. „Wir konnten die Spitzengruppe sehen und ich wusste: Das klappt! Ich habe keinen Moment gezögert und überhaupt nicht an mich selbst gedacht. Ich wollte für Lisa das Loch zufahren und es hat funktioniert“, so Lichtenberg.
Während Brennauer die Silber-Medaille gewann, erntete die damals noch 28-jährige Lichtenberg im Teamhotel goldenen Applaus, als die Wiederholung des Rennens während des Abendessens im Fernseher lief. „Die Anerkennung vom deutschen Team war sehr, sehr schön und natürlich bedeutet mir das viel. Aber auch die anderen Mädels haben einen großen Teil zu dem super Rennen beigetragen. Am schönsten ist es, wenn man mit allen gemeinsam glücklich sein kann.“ Als die Mannschaft an diesem Abend in Ponferrada geschlossen tanzen ging, wirkte auch Lichtenberg eben genau so: glücklich.