Interview

Voigt: Wir wollen das historische Double!

Von Matthias Seng

10.04.2006  |  Jens Voigt hat mit seinem zweiten Platz auf der vorletzten Etappe der Baskenland-Rundfahrt bewiesen, dass er nach langer Verletzungspause wieder in guter Form ist. Im Gespräch mit Radsport aktiv verriet der 34jährige Berliner sein großes Ziel für diese Saison: seinen Kapitän und Freund Ivan Basso bei dessen Unternehmen Tour-Sieg erfolgreich zu unterstützen. „Mit meinen CSC -Teamkollegen und Ivan in Gelb zusammen die Seine entlang nach Paris hinein fahren zu können – das wäre das Größte!“

Im Baskenland zeigten Sie sich wieder in aufsteigender Form. Haben wir dort wieder den alten Jens Voigt gesehen?

Voigt: Ich bin zufrieden mit meinem zweiten Platz auf der vorletzten Etappe. Ich war eigentlich der Stärkere. Aber leider ging es im Finish leicht bergab. Da ist ein Power-Sprinter wie ich im Nachteil. Wenn es leicht bergauf gegangen wäre, hätte ich Voeckler wohl besiegt. Wir wollten nach all dem Verletzungspech in den letzten Wochen unser Schicksal selbst in die Hand nehmen und ein Zeichen setzen: Team CSC ist wieder da. Und das ist uns gelungen.

CSC hat so früh in der Saison schon viele Verletzte zu beklagen. Wie wirkt sich das auf das Team aus?

Voigt: Unsere Verletztenliste ist wirklich ziemlich lang. Jetzt sind auch noch die beiden Schleck-Brüder außer Gefecht gesetzt. Stürze sind natürlich üble Dinge, aber Teil unseres Berufsrisikos. In den letzten Jahren hatten wir bei CSC kaum mit Sturzproblemen zu kämpfen, in diesem Jahr kommt alles zusammen. Auf lange Sicht gesehen hält sich eben alles die Waage. Natürlich hat unser Sturzpech auch auf die Moral gedrückt. Wir sind hier bei CSC nämlich nicht nur Kollegen, sondern auch Freunde. Es tut mir weh, wenn ein Stuart O’Grady, der sich für die Frühjahrsaison so viel vorgenommen hatte, stürzt und lange ausfällt. Aber es hilft nichts. Manchmal muss man sich eben gegen das Schicksal stemmen und das Glück erzwingen.

Sie selber sind ja in der Vorbereitung und zu Beginn der Saison ebenfalls zweimal gestürzt. Wie hat sich das auf ihren Formaufbau ausgewirkt?

Voigt: Nach meinem Sturz im November wurde mir unter Vollnarkose ein Metallstück mit drei Schrauben in die verletzte Schulter eingesetzt. Das war nötig, ist aber für keinen Körper gut. Nach etwa zwei Monaten wurde es mir entfernt, wieder unter Vollnarkose. Da wird der Körper von 100 auf 0 heruntergefahren. Gut ist das nicht.
Dadurch hatte ich nicht nur Trainingausfall, sondern konnte überhaupt nur in Drei-Wochen-Intervallen trainieren. Der Rennfahrer wird im Winter gemacht, heißt es. Aber mir fehlte dieser wichtige Trainingsblock. Auf Mallorca bin ich dann gleich bei meinem ersten Rennen wieder gestürzt. Das war weniger dramatisch für meinen Körper, aber für die Moral und das Selbstvertrauen war es gar nicht gut. Nach Stürzen fährt man automatisch vorsichtiger, muss sich erst wieder an die Grenze herantasten. Erst jetzt bin ich wieder das, wo ich sein wollte.

Gehören Querfeldeinrennen auch nächstes Jahr wieder zu Ihrem Vorbereitungsprogramm?

Voigt: (lacht) Höre ich da eine Spitze heraus? Ich bin ja aus Spaß da mitgefahren. Da willst du einmal ein guter Mensch sein, und gleich wirst du dafür bestraft. Aber ich muss sagen, dass es mein eigener Fehler war, direkter gesagt: eigene Dummheit. Aber ich fahre im Winter grundsätzlich viel Mountainbike, schließe mich in meiner Heimat einer Trainingsgruppe an. Das hat mir immer gut getan. Also werde ich es auch in Zukunft so halten.

Sie bereiten sich im Gegensatz zu den meisten Ihrer Kollegen nicht im Süden vor. Ist Ihre Familie der Grund oder hat es auch trainingsspezifische Aspekte?

Voigt: Es ist eine Kombination aus mehreren Faktoren. Natürlich will man auch mal Zuhause sein, wenn man Frau und vier Kinder hat. Ganz klar: Die Familie fordert ihr Recht. Das ist der eine Punkt. Dann denke ich, dass Training in der Kälte auch dazu beiträgt, den Körper an die in Europa herrschenden Verhältnisse anzupassen. Schließlich fahren wir auch Rennen bei Schnee und Eis. Ich denke da etwa an Paris-Nizza, wo teilweise winterliche Bedingungen herrschen. Bei diesem Rennen frage ich mich immer wieder: Wo ist denn die globale Erwärmung? Hier jedenfalls merkt man nichts davon.
Unser mitteleuropäischer Körper ist eben für diese Bedingungen gemacht und an die vier Jahreszeiten angepasst. Das ist meine persönliche Theorie, aber ich bin damit bisher nicht schlecht gefahren. Ich habe im letzten Jahr neun Rennen gewonnen, davor waren es acht. Also kann die "Methode Voigt" nicht so schlecht sein. Dazu kommt, dass es im November und Dezember ja noch nicht wirklich bitterkalt hier ist. Das Training unter diesen Umständen ist auch gut für das Immunsystem. Und schließlich bin ich froh, nicht auch noch nach der Saison diesen Reisestress zu haben. Ich habe einmal die Malaysia-Rundfahrt mitgemacht, danach habe ich einen Monat gebraucht, um mich wieder zu akklimatisieren. Als ich hier wieder Rennen gefahren bin, habe ich mich wie festgeklebt auf der Straße gefühlt.

Die ProTour ist nicht unumstritten. Was halten die Fahrer von ihr?

Voigt: Hinter der ProTour, so, wie ich sie verstehe, steckt auch der Gedanke der Solidarität. Die Großen sollen den Kleinen helfen. Wenn dieser Gedanke in die Tat umgesetzt werden würde, würden alle von der ProTour profitieren. Ich kann beide Seiten verstehen: UCI und Teams auf der einen, die großen Veranstalter auf der anderen. Natürlich tut sich die Tour-Organisation ASO nicht leicht damit, Rechte abzutreten, jetzt, wo die Tour auch zu einem profitablen Geschäft geworden ist.
Auf der anderen Seite müssen die Teams jedes Jahr ihr Budget vorlegen und von der UCI absegnen lassen. Auch die Fahrer stehen unter einem großen Druck, denn sie müssen Jahr für Jahr beweisen, dass sie gut genug für ein ProTour-Team sind. Nur die Veranstalter haben momentan Rechte, aber keine Pflichten. Die ProTour steht auf drei Säulen: Veranstalter-Teams und Fahrer. Im Idealfall sollten die Lasten zwischen allen gleich verteilt sein. Aber so ist es momentan eben nicht. Die ProTour ist eine langfristige Angelegenheit und irgendwie müssen sich alle Seiten zusammenraufen.

Welches Gewicht hat die Stimme der Fahrer im ProTour-Rat im Vergleich zu den anderen Interessensvertretern?

Voigt: Ich sitze ja für die Fahrer im ProTour-Rat CPA – und ich wäre nicht mehr dabei, wenn ich nicht den Eindruck hätte, etwas bewirken zu können. Vor Lüttich-Bastogne-Lüttich etwa gibt es ein großes Meeting aller Fahrer und hier kann jeder das Wort ergreifen und sein Anliegen vorbringen. Und als Fahrervertreter kann ich schon den Meinungen meiner Kollegen im Rat schon Gehör verschaffen. Den Fahrern ist es beispielsweise daran gelegen, die Sicherheitsbedingungen bei den Rennen zu verbessern. Bei Tirreno-Adriatico etwa stand es damit nicht gerade zum besten. Wenn Fahrer einem Rennen schlechte Kritiken geben, dann hat das schon Folgen für die Veranstalter. Ich bin guter Dinge, dass die Fahrer da Verbesserungen durchsetzen können.

Was halten Sie von dem Vorhaben, die Zahl der ProTour-Teams von 20 auf 18 zu reduzieren ?

Voigt: Sicher freuen sich die Continental-Teams darüber. Es gibt mehr wildcards, dadurch auch größere Chancen für sie, an den Top-Rennen teilzunehmen. Aber ich könnte von keinem der 20 ProTour-Team sagen: Das gehört nicht in die Serie. Ich finde, momentan läuft alles ganz gut in der ProTour. Und ehrlich gesagt: Es gibt vielleicht zwei Continental-Pro-Teams, die mit den Elite-Teams mithalten können, danach wird das Gefälle schon sehr groß. ProTour-Rennen sind sehr schwer, schwerer als die meisten anderen. Deswegen sind sie ja auch ausgewählt worden. Und ich bezweifle, dass die Qualität durch eine Reduzierung auf 18 Teams erhöht wird.

Ist der größte Nachteil der ProTour nicht, dass sie eine geschlossene Gesellschaft ist?

Voigt: Sicher ist sie das. Aber fragt in anderen Sportarten wie Golf oder Tennis jemand, ob die sich öffnen? Ich sage ganz ehrlich: Für die Teams ist diese Regelung prima. Die Teams und die Sponsoren haben Planungssicherheit. Natürlich sehe ich auch, dass man den Unterbau schützen und weiterentwickeln muss. Sonst gibt es in fünf, sechs Jahren nicht mehr genug erstklassige Fahrer. Es muss Kontinuität in der Entwicklung geben. Natürlich ist es leicht, auf der ProTour herumzuhacken. Aber sie hat zumindest einen Anfang gesetzt. Und wir arbeiten daran, die Mängel auszumerzen.

Aber bis dahin geht der Zwist zwischen den großen Veranstaltern auf der einen und der UCI und den Teams auf der anderen Seite weiter?

Voigt: Das ist der Gordische Knoten, den es zu durchtrennen gilt. Ich habe auch dafür keine Patentlösung. Es wird ein schrittweise Prozess der gegenseitigen Annäherung stattfinden müssen. Die ProTour will vereinheitlichen und standardisieren. Angesichts der Globalisierung muss auch der Radsport moderner werden.

Ivan Basso will die Tour gewinnen. Sie werden dabei sicherlich helfen müssen. Doch welche Ziele hat Jens Voigt?

Voigt: Pathetisch formuliert: Ich will Augenzeuge des historischen Doubles (Giro- und Tour-Gewinn, d. Red. ) werden. Ich will in einer Mannschaft dabei sein, die den Tour-Sieger stellt. Das ist im Fußball vergleichbar mit dem Gewinn der Champions League. Ich möchte meinem Kapitän und Freund Ivan Basso helfen die Tour zu gewinnen. Was für ein Gefühl muss das sein: Auf der letzten Etappe an der Seine entlang nach Paris hineinfahren, acht Fahrer im CSC-Trikot, der neunte von uns, Ivan, in Gelb. Das wäre ein Stück Radsportgeschichte, an der ich mitschreiben will.

Giro-Und Tour-Sieg in einem Jahr: Ist das heutzutage überhaupt zu schaffen?

Voigt: Eindeutig ja. Ivan kann das schaffen. Sein Motor kommt vielleicht langsamer in Schwung, aber dafür hält er auch länger durch als alle anderen. Der Giro ist sicher wichtig für Ivan, es ist sein Heimatrennen. Und in diesem Jahr scheint er wie gemacht für ihn. Und zur Tour: Vor zwei Jahren ist Ivan Dritter geworden, da hatten wir Platz sechs als Ziel ausgegeben. Im letzten Jahr wollten wir aufs Podium, da sprang Platz zwei für ihn heraus. Die logische Schlussfolgerung für dieses Jahr kann also nur der Tour-Sieg sein. Sonst würden wir doch unglaubwürdig.

Sie wollen in zwei Jahre Ihre Karriere bei CSC beenden. Wissen Sie schon, wie es danach für Sie weitergehen wird?

Voigt: Ich habe noch bis Ende 2007 Vertrag. Aber wer sagt denn, dass ich danach aufhören werde? Ich bin jetzt 34 und kann noch zwei Jahre auf höchstem Niveau fahren. Ich habe noch genug Power, um bis Ende der nächsten Saison als Leistungsträge zu fungieren. Mein Plan ist, dass ich danach als eine Art Mentor bei CSC fahre, etwa die Rolle von Giovanni Lombardi übernehme. Ich werde dann zu Bjarne gehen und sagen: Gib mir weniger Geld, dafür habe ich auch weniger Stress und kann den jungen Fahrern helfen und meine Erfahrungen weitergeben.

Wen sehen Sie als Tour-Favoriten?

Voigt: Eindeutig: Es müsste sich zwischen Basso und Ullrich entscheiden. Ullrich hat es drauf, er hat ja schon beweisen, dass er die Tour gewinnen kann. Er weiß, wie es geht, er hat dieses große Talent. Im erweiterten Favoritenkreis sehe ich Valverde, Leipheimer, Menchow, Landis, Mancebo, Winokurow und vielleicht noch Cunego. Und dazu kommt vielleicht noch ein frisches Gesicht, ein Fahrer, mit dem man vorher nicht gerechnet hätte.

Welche Schlagzeile über sich würden Sie am Ende der Saison 2006 am liebsten lesen?

Voigt: Ganz unbescheiden: CSC ist das beste Team der Welt und hat alle drei großen Rundfahrten gewonnen. Naja, wenn ich realistisch sein soll, dann vielleicht: Basso und CSC haben die Tour gewonnen. Unter normalen Bedingungen müsste das möglich sein.

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