Momente für das Giro-Geschichtsbuch

Gottis großes Ding

Von Guido Scholl

Foto zu dem Text "Gottis großes Ding"
Ivan Gotti beim Giro 1997, den der Italiener gewann. | Foto: Cor Vos

22.05.2017  |  (rsn) - Vor dem Giro d'Italia 1997 war kein glasklarer Favorit auszumachen – hinter jedem der Anwärter auf den Gesamtsieg stand ein kleineres oder größeres Fragezeichen. Das kleinste war sicherlich Vorjahressieger Pavel Tonkov zuzuordnen, hatte der Russe doch zur Generalprobe die Tour de Romandie gewonnen. Aber auch in seiner Vorbereitung hatte es einige Probleme gegeben. Was Marco Pantani würde ausrichten können, war ebenfalls ungewiss, denn der Kletterstar war gerade erst nach seinem schweren Unfall bei Mailand-Turin 1995 wieder ins Renngeschehen zurückgekehrt.

Jewgeni Berzin, Giro-Gewinner 1994 und Zweiter 1995, war im Jahr zuvor nur auf Platz zehn gefahren – wozu war der enigmatische Russe diesmal in der Lage? Piotr Ugrumow hatte in den Augen der Experten mit 36 Jahren bereits seinen Zenit überschritten – trotz Rang vier im Giro 1996 und Platz sieben bei der Tour de France jenes Jahres. Bergspezialist Luc Leblanc musste nach vier Top-10-Platzierungen erst noch beweisen dass er auch auf ein Grand-Tour-Podium fahren konnte. Gleiches galt für Ivan Gotti, den Fünften des Giro 1996 und der Tour de France des Jahres davor.

Bereits die 2. Etappe sollte einen Fingerzeig liefern, wer in den Kampf um den Gesamtsieg eingreifen konnte. Die Zeitunterschiede blieben aber in engen Grenzen: Das Bergzeitfahren in San Marino entschied Tonkov für sich, Berzin kam mit 21 Sekunden Rückstand als Zweiter an, Leblanc hatte 37 Sekunden Abstand, Ugrumow 53 und Gotti 55 – nur Pantani hatte mit 1:23 Minuten etwas mehr an Boden verloren, als es sich die Panta-Tifosi gewünscht hatten.

Lange ausruhen konnten sich Tonkov, der das Rosa Trikot übernahm, und sein Mapei-Team auf dem Erfolg nicht, denn bereits das fünfte Teilstück sah die erste Bergankunft vor. Am Terminillo, wo die Etappe zu Ende ging, parierte der Gesamtführende jede der zahlreichen Attacken, die vor allem Leblanc und Gotti lancierten. Berzin und Ugrumow fielen früh zurück, es bildete sich eine Gruppe mit Gotti, Leblanc, Tonkov, Pantani, Andrea Noe, Leonardo Piepoli und Aleksandr Schefer. Auf den letzten Kilometern steckten die Kletterspezialisten entnervt auf, weil Tonkov scheinbar mühelos auf alles reagieren konnte, was sie unternahmen. Im Sprint gewann der Russe die Etappe sogar und holte sich noch Bonifikationssekunden dazu.

Als dann während der bergigen 8. Etappe Pantani ein Hund ins Rad lief und sich der Kletterkünstler beim folgenden Sturz so schwer verletzte, dass er später ausstieg, dämmerte den Tifosi, dass einem erneuten Gesamtsieg des schweigsamen Tonkov – Spitzname: „Sphinx“ - wohl nicht mehr viel im Wege stand. Dessen 41 Sekunden Vorsprung auf Leblanc und die 1:07 Minuten auf Gotti waren zwar nicht üppig, aber bis dahin hatte Tonkov auf jedem Terrain dominiert und ein 40-Kilometer-Zeitfahren stand auch noch aus, was den Mapei-Kapitän klar bevorteilte.

Ein erster Lichtblick aus Sicht der Italiener bot Gotti während der 12. Etappe mit Ziel in Varazze. Vor allem aufgrund seiner Attacken war Tonkov am letzten langen Berg isoliert, und erneut waren nur noch wenige Klassementfahrer in der ersten Gruppe beieinander. Auch wenn der Saeco-Kapitän an diesem Tag keine Zeit hatte gutmachen können, schien der Mann in Rosa nicht mehr ganz so unantastbar, und vor allem hatte dessen Mannschaft Schwächen erkennen lassen.

Seinen nächsten Vorstoß unternahm Gotti während der 14. Etappe mit Ziel oben in Breuil Cervinia. Diesmal wartete der Italiener nicht erst bis zum letzten Anstieg des Tages sondern griff bereits am Col de Saint Pantaleon an – obwohl es nach dessen Überquerung noch ein gutes Stück hin war bis zum Fuß des Schlussanstiegs. Und es herrschte Gegenwind. Doch Gotti war entschlossen, Tonkov hart herauszufordern, ehe der Giro in den folgenden beiden Tagen in seiner Heimatregion unterwegs sein würde.

Mit 1:45 Minuten Vorsprung erreichte Gotti gemeinsam mit Nicola Miceli den letzten Berg. Es entwickelte sich ein Fernduell. Gotti schüttelte Miceli ab, Tonkov all seine Begleiter außer Leonardo Piepoli. Zunächst schien es, als könne der Russe Sekunde um Sekunde zurückholen, doch bald schwanden bei ihm die Kräfte, so dass der Abstand wieder etwas anwuchs. Im Ziel waren es dann 1:46 Minuten, die Gotti und Tonkov trennten – fast exakt so viel wie am Beginn der Steigung. Gotti hatte das Rosa Trikot übernommen, führte mit 51 Sekunden vor Tonkov und 3:02 Minuten vor Leblanc.

Die Fans feierten den mutigen Angriff, waren aber noch unsicher, ob Gotti den Giro tatsächlich würde gewinnen können. Im Zeitfahren würde er schließlich Boden verlieren. Doch jene 40 Kilometer zwischen Beselga di Pinè und Cavalese verliefen günstig für den neuen Gesamtführenden. Tonkov musste nach einem Defekt das Rad wechseln und verlor im Anschluss den Rhythmus. An der letzten Zwischenzeit lagen nur noch 21 Sekunden zwischen den beiden Besten, im Ziel waren es gar nur 14. Gotti hatte Rosa um 37 Sekunden verteidigt.

Den Kampf gegen die Uhr gewann übrigens ein gewisser Sergej Gontchar mit 1:08 Minuten Vorsprung auf Berzin, der im Gesamtklassement aber bereits weit zurück lag. Von den Top-Platzierten knallte an diesem Tag Aleksandr Schefer in einen Imbisswagen, nachdem er in einer Abfahrt die Kontrolle über sein Rad verloren hatte. Noch schlimmer erwischte es Leblanc, der gegen eine Mauer prallte und schwere Prellungen und Abschürfungen davon trug.

Jetzt war der Giro-Sieg für Gotti greifbar nahe. Aber im direkten Vergleich hatte er Tonkov am Berg bis dahin noch nicht abhängen können. Und weil sie dies auch bei Saeco registriert hatten, lautete die Marschroute während der 19. Etappe über acht schwere Anstiege – unter anderem Passo Sella, Passo Pordoi, Passo di Campolongo – erneut: Früher Angriff. Am Valico di Riomolino setzte sich der Italiener gemeinsam mit Giuseppe Guerini ab.

Tonkov und einige andere der Top-Fahrer erlebten an diesem regnerischen Tag die Vorentscheidung, wobei Gotti davon profitierte, dass Leblanc das Rennen aufgab. Denn so erhielt dessen Teamkollege Guerini grünes Licht zur Mitarbeit. Gemeinsam erreichten die beiden Italiener das Ziel in Falzes, wo der vorher mit einer Gruppe enteilte José Luis Rubiera die Etappe abschoss. Tonkov büßte knapp eine Minute auf den Mann in Rosa ein und lag somit um 1:32 Minuten im Hintertreffen. Guerini hatte sich auf Platz drei verbessert, den er bis zum Schluss verteidigen sollte.

Nachdem sich während der 20. Etappe über Passo Mendola und Passo del Tonale – der Sieg ging an Chepe Gonzalez – nichts an der Gesamtsituation geändert hatte, stand dem ersten italienischen Giro-Sieg seit 1991 nur noch das 21. Teilstück im Wege. Der letzte Anstieg dieser Etappe war der extrem steile Mortirolo – und dort ist Drama praktisch programmiert.

Um Tonkov helfen zu können, war Altmeister Gianni Bugno früh ausgerissen. Gotti erhöhte das Tempo in den ersten steilen Kehren und war bald allein mit Tonkov, doch dann spannte sich der von vorn zurückkommende Bugno mit ganz dicker Mühle vor dieses Duo. Erstaunlich lange konnte „Signore Griesgram“ das Tempo machen, doch plötzlich krachte er in ein Begleitmotorrad, das in einer Kurve zum Stehen gekommen war. Gotti griff kurz darauf noch einmal an, aber Tonkov parierte.

Fortan fuhren beide nebeneinander den Berg hinauf und pokerten – wahrscheinlich lauerten Tonkov und Gotti auf ein Zeichen von Schwäche beim jeweils anderen. Dadurch schloss Wladimir Belli von hinten auf. Die Fans spielten geradezu verrückt in ihrer Begeisterung für Gotti. Kurz vor der Passhöhe schien es, als klatschte das Maglia Rosa seine Fans im Angesicht des nahen Sieges ab. Von wegen: Der Saeco-Mann war nervös und wollte die Tifosi fuchtelnd auf Distanz halten.

Belli passierte den Mortirolo an erster Position. In der Abfahrt schüttelte er die beiden Begleiter sogar ab, wäre dann aber beinahe zu Fall gekommen, so dass dieses Trio in Edolo auf die Zielgerade ging. Da war klar, dass Ivan Gotti der erste Italiener seit Franco Chioccioli sein würde, der den Giro gewinnt. Tonkov bewies, dass er ein Champion war, und gewann die Etappe.

Der phlegmatisch wirkende Gotti hatte recht spät seinen Durchbruch geschafft. Der Giro-Sieger jenes Jahres, der auch 1999 noch einmal gewinnen sollte, war immerhin bereits 28 Jahre alt. Was seinen Sieg besonders machte, war die Art und Weise, wie er unerschrocken zur Attacke blies, auch wenn der Weg ins Ziel noch weit war und es stürmte oder regnete. Leider wendete sich Gotti anschießend von diesem Konzept ab, was ein möglicher Grund dafür ist, dass seine Karriere nicht ganz den Glanz bekam, den sich seine Fans wohl erhofft hatten.

Wer kennt sie nicht, die sportlichen Heldentaten von Fausto Coppi und Gino Bartali, von Alfredo Binda, Felice Gimondi und Eddy Merckx? Sie alle prägten die 100-Jährige Geschichte des Giro d’Italia maßgeblich. Doch auch in der jüngeren Historie der Italien-Rundfahrt findet sich jede Menge Stoff für weitere Kapitel. radsport-news.com lässt anlässlich des Giro-Jubiläums einige dieser geschichtsträchtigen Momente wieder aufleben.

Mehr Informationen zu diesem Thema

27.05.2017Ganz groß in der zweiten Reihe

(rsn) - Die jüngere Geschichte des Giro d’Italia war eng verknüpft mit Namen wie Marco Pantani, Ivan Gotti, Gilberto Simoni, Jewgeni Berzin und Pavel Tonkov. Im elften und letzten Kapitel dieser R

26.05.2017Die Revolte des kleinen Prinzen

(rsn) - Bei der Italien-Rundfahrt 2004 erwartete das Publikum den erneuten Zweikampf zwischen Gilberto Simoni und Stefano Garzelli, die sich bereits im Jahr zuvor duelliert hatten. Simoni hatte deutli

25.05.2017Die Stunde des Stellvertreters

(rsn) - Die Ausgangslage vor dem Giro d’Italia 2000 war aus mehrerlei Gründen spannend. Die Italiener fieberten einerseits der Rückkehr des 1999 wegen zu hohen Hämatokritwerts ausgeschlossenen Ma

19.05.2017Die zehn rosaroten Tage von "Opa“ Heppner

(rsn) - Einen wechselhafteren Giro als jenen des Jahres 2002 hat es wohl nie vorher und auch nie mehr danach gegeben. Ein Favorit nach dem anderen wurde entweder aus dem Rennen genommen, brach in den

18.05.2017Showdown am Berg der Champions

(rsn) - Vor dem Giro d’Italia 1998 waren die Favoriten auf den Gesamtsieg schnell ausgemacht: Die Gewinner der beiden Vorjahre, Ivan Gotti und Pavel Tonkov, der Gewinner der Spanien-Rundfahrt 1996 u

15.05.2017Ullrichs ungewollte Abschieds-Gala

(rsn) - Im Jahr 2006 bestritt Jan Ullrich seinen zweiten und letzten Giro d’Italia. Es sollte sein vorletztes Profirennen überhaupt sein. Und er verabschiedete sich mit einem sensationellen Sieg vo

08.05.2017Ein Taktik-Fuchs und zwei Streithähne

(rsn) Die 1995er-Auflage des Giro d´Italia erlebte den ganz großen Auftritt des Schweizers Tony Rominger, war aber ebenso geprägt vom Streit der Gewiss-Kapitäne Jewgeni Berzin und Piotr Ugrumov.

07.05.2017Als den Panta-Tifosi das Herz brach

(rsn) - Der Giro d´Italia 1999 sollte zur großen Show des Marco Pantani werden. Doch anstelle einer Gala entwickelte sich das Rennen zum Drama, das im Rückblick die Tragödie einleitete, in deren V

05.05.2017Mortirolo 1994 - die Geburtsstunde des Piraten

(rsn) - Der Giro d’Italia 1994 markierte einen Wendepunkt für die Tifosi. Mit Marco Pantani ging ein Stern am Radsporthimmel auf, der die der übrigen Idole der italienischen Fans – allen voran C

04.05.2017Schnee am Gavia - der Tag, an dem die großen Männer weinten

(rsn) - Wer kennt sie nicht, die sportlichen Heldentaten von Fausto Coppi und Gino Bartali, von Alfredo Binda, Felice Gimondi und Eddy Merckx? Sie alle prägten die 100-Jährige Geschichte des Giro dâ

Weitere Radsportnachrichten

28.03.2024Die Flandern-Rundfahrt im Rückblick: Die letzten zehn Jahre

(rsn) - Die Flandern Rundfahrt ist für viele Radsport-Fans neben Paris-Roubaix das Highlight des Frühjahrs. Das belgische Monument führt über mehr als 260 Kilometer und zahlreiche Hellinge, den ku

28.03.2024Van Aert erfolgreich operiert - Giro-Debüt ungewiss

(rsn) – Einen Tag nach seinem schweren Sturz bei Dwars door Vlaanderen ist Wout van Aert nach Angaben seines Teams Visma – Lease a Bike erfolgreich operiert worden. Ob der 29-jährige Belgier rech

28.03.2024Appell an die Zuschauer: “Haben Sie Respekt vor den Fahrern“

(rsn) – Wenige Tage vor der 108. Flandern-Rundfahrt (1. UWT / 1. März), haben Tomas Van Den Spiegel, Geschäftsführer des Veranstalters Flanders Classics, und Carina Van Cauter, die Gouverneurin R

28.03.2024Die Aufgebote aller Teams zur Flandern-Rundfahrt der Männer

(rsn) – Der Ostersonntag wirft seine Schatten voraus: Am 31. März versammelt sich das WorldTour-Peloton in Antwerpen zum Start der 270,8 Kilometer langen Ronde van Vlaanderen. Das Heiligtum des bel

28.03.2024Zeckenbiss möglicher Grund für De Lies Formschwäche

(rsn) – Da Arnaud De Lie in den vergangenen Wochen weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben war, hatte sein Team Lotto – Dstny in Absprache mit dem 22-jährigen Belgier entschieden, dass diese

28.03.2024Die Aufgebote aller Teams zur Flandern-Rundfahrt der Frauen

(rsn) – Wenn die Männer nach ihrem Start in Antwerpen bereits 120 Rennkilometer hinter sich haben und erstmals durch Oudenaarde kommen, stellen sich dort auf dem Marktplatz des Zielorts der Ronde v

28.03.2024Huppertz: Vor Rennen abends einen trinken? Heute unvorstellbar

(rsn) – Eine so lange Zusammenarbeit wie die zwischen Joshua Huppertz und Teamchef Florian Monreal gibt es im Kontinental-Bereich sehr selten. Seit August 2014 steht der mittlerweile 29-Jährige Aa

28.03.2024Movistar verlängert mit “Sensation“ Meijering

(rsn) - In unserem ständig aktualisierten Transferticker informieren wir Sie regelmäßig über Personalien aus der Welt des Profiradsports. Ob es sich um Teamwechsel, Vertragsverlängerungen oder RÃ

28.03.2024Märkl will auch bei der Ronde “vor das Radrennen“

(rsn) – Wie schon beim E3 Saxo Classic schaffte Niklas Märkl (DSM Firmenich – PostNL) auch bei Dwars door Vlaanderen den Sprung unter die Ausreißer des Tages. Doch während sein Fluchtbegleiter

28.03.2024Trotz Sturz: Pedersen ist für Ronde-Start zuversichtlich

(rsn) – Ausgerechnet kurz vor der Flandern-Rundfahrt, dem Höhepunkt der flämischen Klassikersaison, wurde Lidl – Trek mächtig gebeutelt. Bei Dwars door Vlaanderen waren mit Gent-Wevelgem-Sieger

27.03.2024Nach Van-Aert-Crash: Kanarieberg hat bei Klassikern wohl ausgedient

(rsn) – Positionskampf bei Höchstgeschwindigkeiten, auf breiter Straße abschüssig in Richtung Ronse: Das waren die Bilder, die die flämischen Klassiker auf der N48 in der Anfahrt zum engen Recht

27.03.2024Teamchef Stam bestätigt: Vollering verlässt SD Worx

(rsn) – Demi Vollering wird SD Worx – Protime nach der Saison 2024 verlassen. Das bestätigte Sportdirektor Danny Stam am Mittwochmittag gegenüber GCN. "Ja, das ist definitiv sicher", sagte der N

RADRENNEN HEUTE
  • Keine Termine