Ineos Grenadiers nicht mehr die Nummer 1

Bei der Tour etablierte sich eine neue Teamhierarchie

Von Tom Mustroph

Foto zu dem Text "Bei der Tour etablierte sich eine neue Teamhierarchie"
Jumbo - Visma war das stärkste Team der 107. Tour de France. | Foto: Cor Vos

20.09.2020  |  (rsn) - Diese Tour de France hat die althergebrachten Verhältnisse durcheinander gewirbelt. Der Bergzug von Team Ineos Grenadiers wirkte wie eine Schmalspurbahn. Die verwaisten Gleise eroberte bis zum vorletzten Tag die schwarz-gelbe Formation von Jumbo - Visma. Die legte lange Zeit den letztlich stärksten Einzelkönner dieser Rundfahrt, den Debütanten Tadej Pogacar (UAE - Team Emirates), an die Kette.

Beim Einzelzeitfahren beeindruckte noch immer die Kollektivbilanz: Drei Jumbo-Profis landeten an der Planche des Belles Filles unter den Top 5, die Helfer Tom Dumoulin und Wout Van Aert waren dabei stärker als ihr nomineller Kapitän Roglic. Weil beim Einzelzeitfahren aber nicht die Zeiten der einzelnen addiert werden und auch niemand Windschatten geben darf, verpuffte hier die kollektive Stärke. Und das Individuum, nämlich Pogacar, setzte sich durch.

Beeindruckend war die Mannschaftsleistung von Jumbo - Visma trotz der finalen Niederlage dennoch. Ein paar Unterschiede zur Praxis von Sky / Ineos gab es auch. Ordneten sich beim britischen Rennstall auch die größten Individualisten dem Teamziel Toursieg bedingungslos unter - von kleinen Ausnahmen wie Froomes Wegfahrversuch 2012 abgesehen - so gibt es beim niederländischen Rennstall auch Freiheiten für nominelle Helfer.

Wout Van Aert konnte seine schier unbändigen Kräfte bei Etappenjagden einsetzen und holte auch zwei Siege. Diese lockere Leine bindet mental umso fester. Wer eigene Erfolge hat, schindet sich am nächsten Tag umso lieber für die anderen. Ein schlauer Zug der Manager von Jumbo - Visma. Es stellt zugleich so etwas wie den Einzug der Postmoderne in den Old School Sport auf schmalen Pneus dar.

Ineos Grenadiers diesmal eher marginal

Kulturell ist dies ein epochaler Schritt, er folgt ganz logisch auf die wissenschaftlich geprägte Moderne, die Team Ineos / Sky mit der berühmten "marginal gains"-Formel einführte.

In diesem Jahr waren bei den Briten allerdings die gains marginal, die gesamte Truppe eher eine Randerscheinung, und wer es nicht so mit protzigen Autos hat, konnte laut lachen über den Umstand, dass ausgerechnet in dem Jahr, in dem der Rennstall Werbung für den neuen Geländewagen Grenadier vom Finanzier Ineos Werbung macht, der Gesamtauftritt eher dem eines schlecht gepflegten Trabbis ähnelte.

Der Analysen von außen gab es viele. Bradley Wiggins, Tour-Champion von 2012, etwa lobte erst die Entscheidung, seine Nachfolger Chris Froome und Geraint Thomas zu Hause zu lassen. So eine Entscheidung sei komplex, meinte er zu Tour-Beginn. Und Rennstallchef Brailsford sei vor allem deshalb ein so großer Manager, weil er Daten richtig lesen und immer zum Wohle des Teams entscheide und dabei keine Extrawürste für große Egos brate, lautete kurz zusammengefasst das Extra-Lob für den einstigen Boss. Als Egan Bernal dann aber schwächelte, zürnte Wiggins plötzlich, und meinte gar, Thomas hätte dem Team im Rennen gut getan und Froome zumindest mit seiner Präsenz am Frühstückstisch für einen Extra-Boost gesorgt. Argumentative Konsistenz ist nicht so ganz die Sache von Sir Wiggo.

"Wer draußen ist, kann leicht mit Fingern auf andere zeigen", wedelte Gabriel Rasch, Sportlicher Leiter bei Ineos, denn auch die Anklagen lässig weg. Rasch wie auch Brailsford selbst warfen den Kritikern vor, die Daten nicht zu kennen, auf denen sie ihre Entscheidung gegründet hatten. Wie so oft bei Ineos / Sky machte Brailsford aber ein Geheimnis um die harten Fakten. Die noch härtere Rennrealität bewies dann, dass entweder die Daten fehlerhaft waren oder die Schlüsse daraus. "Egan war mit seiner Leistung nicht da, wo er selber sein wollte", sagte wenigstens Richard Carapaz ehrlich zu radsport-news.com.

Das zeigt, dass Züge nur dann Sinn machen, wenn der letzte Triebwagen auch einen starken eigenen Motor hat. Gewisse Schwächen des Leaders kann ein Team zwar überspielen, einen echten Einbruch aber nicht verstecken. Zumindest dann nicht, wenn ein ebenbürtiger Gegner auf Risse im Gefüge lauert. Merijn Zeeman, Sportlicher Leiter von Jumbo - Visma, sah das Debakel von Ineos dann auch nicht primär von der inneren Schwäche des britischen Rennstalls selbst verursacht, sondern von der Stärke seiner eigenen Jungs ausgelöst. "Die haben weiter ein sehr starkes Team. Aber Bernal war nicht da, wo wir ihn erwartet haben", sagte Zeeman zu radsport-news.com, bevor er wegen seines Streits mit einem UCI-Offiziellen des Rennens verwiesen wurde.

Alle im Schatten von Jumbo - Visma

Im Schatten von Jumbo - Visma und auch der Abwesenheit von Ineos als Kollektivfaktor geschuldet, entwickelte sich Bahrain - McLaren zur zweitstärksten Formation dieser Tour. Mehrere Tage lang bereiteten die Mannen in den rot-orangenen Trikots Angriffe ihres Kapitäns Mikel Landa vor. Der Baske konnte dann zwar nicht vollenden. Die Performance an sich machte aber die Profis und auch den Chef glücklich. "Wir haben gezeigt, dass wir als Team harmonieren. Andere waren dann stärker als Mikel, aber die Mechanismen funktionieren", sagte Matej Mohoric, auch er ein Slowene, aber keiner auf dem Podium, zu radsport-news.com. "Man sieht jetzt erste Ergebnisse. Wir müssen noch viel lernen. Wir arbeiten aber auch erst seit Oktober ernsthaft zusammen und waren durch den Lockdown ausgebremst", erzählte Rod Ellingworth radsport-news.com.

Ellingworth war Performance Manager bei Ineos. Er nahm Ende des letzten Jahres das Angebot des bahrainischen Prinzen an, um ein Spin Off von Ineos / Sky zu entwickeln. Ob dieses Nachbauen erfolgreich wird oder nur ein blasses Abbild entsteht, bleibt abzuwarten. Ellingworth ist auch zuzutrauen, das Modell dynamisch weiter zu entwickeln. Die Fahrer-Basis jedenfalls ist nicht schlecht. Mit Neuzugang Jack Haig wird die Kletterfraktion weiter verstärkt. Es fehlt aber ein echter Co-Leader neben dem unberechenbaren Landa.

Eine völlig andere Strategie verfolgte der Rennstall des mutmaßlichen Siegers, UAE - Team Emirates. Auch wegen unglücklicher Ausfälle - die starken Kletterer Davide Formolo und Fabio Aru mussten die Tour verlassen - sah man die Truppe eher selten im Block agieren. Ganz auf sich allein gestellt war der junge Häuptling Tadej Pogacar aber auch nicht. Im Flachen konnte er sich auf den erfahrenen Alexander Kristoff als Babysitter verlassen; den Rückstand bei der Windkante konnte aber auch der Wikinger nicht vermeiden. Da gibt es Punktabzug in der Sittingwertung.

Erfindet sich Ineos Grenadiers neu?

Wenn es steiler wurde, war eine Weile noch Landsmann Jan Polanc bei Pogacar, und bis in den letzten Berg hinein sah man häufig noch David de la Cruz. Der Spanier hat das Bergzug-Fahren während zweier Jahre bei Team Ineos gelernt. Interessant wird, wie Rennstallchef Mauro Gianetti in Zukunft das kollektive Bergspiel spielen will, wenn die Helfer länger im Rennen bleiben. Gut möglich, dass er dabei nicht dem Muster von Ineos, Jumbo und Bahrain folgt.

Beim letzten Top-Star, den er hatte, den mit sehr krassem Doping aufgeflogenen Riccardo Ricco, war das Team vor allem als Wohlfühlblase für den jungen Leader eingesetzt, der dann als "Kobra", so sein Spitzname, wie aus dem Nichts herausgeschossen kam. Der Charakteristik des neuen Sterns Pogacar würde eine solche Philosophie auch entsprechen. Er ist zwar weniger explosiv als Ricco, sucht aber auch gern als Solist die Entscheidung.

Die große Frage für die kommende Saison ist jedoch: Als was wird sich Ineos neu erfinden? Ist es der gleiche Phoenix, der aus der Asche des September 2020 neu entsteht oder gibt es, auch angesichts so außergewöhnlicher Klettertalente wie Bernal, Ivan Sosa und Pavel Sivakov, nicht eher eine Annäherung an das Gianetti-Konzept? Dann hätten wir auf der einen Seite die - modifizierten - Ineos-Klone Jumbo - Visma und Bahrain - McLaren, und auf der anderen die eher im Sinne einer Partisanentaktik agierenden UAE - Team Emirates und Ineos 2.0.

Mehr Informationen zu diesem Thema

16.06.2021Madiot: “Wir hätten Pinot früher aus der Tour nehmen sollen“

(rsn) - Sein bisher letztes Rennen bestritt Thibaut Pinot (Groupama - FDJ) vor mittlerweile zwei Monaten, als er die Tour of the Alps unter ferner liefen auf Rang 60 beendete. Danach entschied der Fra

23.12.2020Bernal wieder schmerzfrei auf dem Rad

(rsn) - Egan Bernals Genesung macht offensichtlich deutliche Fortschritte. Wie der Tour-de-France-Sieger von 2019 gegenüber dem Internetportal primertiempo.co sagte, könne er wieder schmerzfrei trai

11.12.2020Dumoulin zuversichtlich: “Mir fehlt nur noch ein Prozent“

(rsn) - 2020 war für Tom Dumoulin ein Jahr mit vielen Tiefen und nur wenigen Hochs. Nach dem mit großen Hoffnungen verbundenen Wechsel von Sunweb zu Jumbo - Visma warf zunächst ein bakterieller Dar

15.11.2020Pogacar lobt Roglic als slowenischen Vorreiter

(rsn) - Tadej Pogacar (UAE - Team Emirates) hätte seinem Landsmann Primoz Roglic (Jumbo - Visma) den Tour-de-France-Sieg gegönnt. Das sagte der 22-jährige Slowene im Gespräch mit der spanischen Sp

27.10.2020Bernals Genesung dauert länger als gedacht

(rsn) - Egan Bernals Rückenprobleme, die ihn zum Ausstieg bei der Tour de France und zum vorzeitigen Saisonende zwangen, sind offensichtlich ernsthafter als bisher angenommen. Wie der Kolumbianer geg

10.10.2020Bernal: “Ich hatte eine schwierige Zeit“

(rsn) - Der bei der Tour de France vorzeitig ausgestiegene Egan Bernal (Ineos Grenadiers) wird in diesem Jahr keine Rennen mehr bestreiten. Das kündigte der Kolumbianer auf Instagram an und bestätig

03.10.2020War der Toursieg für Roglic im Zeitfahren unmöglich?

(rsn) - Radsportjournalist Thijs Zonneveld von der niederländischen Zeitung AD hat nach eigenen Angaben Einblick in die Leistungswerte des Tour-Zeitfahrens von Primoz Roglic (Jumbo – Visma) erhalte

24.09.2020Pogacar: “Die Saison ist noch lange nicht vorbei“

(rsn) - Nach seinem Tour-de-France-Triumph hat Tadej Pogacar (UEA - Team Emirates) schon die nächsten großen Ziel im Blick. "Ich muss konzentriert und fit bleiben für die Weltmeisterschaft und die

23.09.2020Viviani: Beim Giro zurück in die Erfolgsspur?

(rsn) - Im letzten Jahr gewann Elia Viviani im Trikot von Deceuninck - Quick-Step  bei der Tour de France eine Etappe und fuhr auf drei weiteren Teilstücken aufs Podium. Die 107. Austragung lief fÃ

22.09.2020UAE Emirates streicht das mit Abstand meiste Preisgeld ein

(rsn) - Kein Wunder: Durch den Gesamtsieg von Tadej Pogacar, der auch das Weiße Trikot als bester Jungprofi sowie die Bergwertung und drei Etappen gewann, sowie den Etappensieg von Alexander Kristoff

21.09.2020Phänomen Pogacar - zu schnell, um wahr zu sein?

(rsn) - Tadej Pogacar hat mit seinem Toursieg nicht nur Rekorde gebrochen, sondern damit auch Fragen aufgeworfen. Ist der Slowene einfach ein Jahrhunderttalent, für den die üblichen Maßstäbe nicht

21.09.2020Die Tour-Bubbles werden aufgelöst

(rsn) - Die Tour de France ist beendet. Die Bubbles werden aufgelöst. Neue werden errichtet, für die WM, die BinckBank Tour, den Giro d´Italia und die großen Klassiker. Primoz Roglic kann jetzt Tr

Weitere Radsportnachrichten

25.04.2024Radsport live im TV und im Ticker: Die Rennen des Tages

(rsn) – Welche Radrennen finden heute statt? Wo und wann kann man sie live im Fernsehen oder Stream verfolgen? Und wo geht´s zum Live-Ticker? In unserer Tagesvorschau informieren wir jeden Morg

25.04.2024Die Aufgebote für den 107. Giro d´Italia

(rsn) – Am 4. Mai beginnt in Venaria Reale nördlich von Turin mit dem Giro d’Italia (2.UWT) die erste Grand Tour des Jahres. Insgesamt 176 Fahrer aus 22 Teams nehmen die 107. Ausgabe der Italien-

25.04.2024Teutenberg jubelt zum Auftakt der Tour de Bretagne

(rsn) - Nachdem er in seinen ersten drei U23-Jahren vergeblich einem UCI-Sieg hinterhergejagt war, eilt Tim Torn Teutenberg (Lidl - Trek Future Racing) in dieser Saison von Erfolg zu Erfolg. Nach sei

25.04.2024Lechner sorgt für den ersten UCI-Saisonsieg einer Deutschen

(rsn) – Corinna Lechner vom Bundesliga-Team Wheel Divas aus Berlin hat für den ersten Saisonsieg einer deutschen Frau auf UCI-Niveau gesorgt. Die 29-Jährige, die am 14. April bereits Dritte beim e

25.04.2024Romandie-Prologsieger Zijlaard bricht sich Ellenbogen

(rsn) – Nur zwei Tage nach seinem Triumph im Prolog der Tour de Romandie (2.UWT) hat Maikel Zijlaard (Tudor) einen heftigen Rückschlag hinnehmen müssen. Wie der 24-jährige Niederländer gegenüb

25.04.2024Bike-Aid: Dorn hat in der Türkei das Bergtrikot “ziemlich save“

(rsn) – Das deutsche Kontinental-Team Bike Aid ist weiterhin der Aktivposten der Türkei-Rundfahrt (2.Pro). Am fünften Tag in Folge war die saarländische Equipe in der Ausreißergruppe vertreten

25.04.2024Nys krönt ersten Ausreißversuch der Karriere, Lipowitz Vierter

(rsn) – Ein 21-Jähriger Crossspezialist aus Belgien hat bei der Tour de Romandie (2.UWT) für die nächste Überraschung gesorgt. Thibau Nys (Lidl - Trek) entschied auf der 2. Etappe die erste Berg

25.04.2024Jakobsen gibt Andresen Grünes Licht für den zweiten Etappensieg

(rsn) – Tobias Lund Andresen (dsm-firmenich – PostNL) hat mit dem zweiten Tagessieg in Folge seine Führung in der Gesamtwertung der 59. Türkei-Rundfahrt (2.Pro) ausgebaut. Der 21-jährige Däne

25.04.2024Drei Bergankünfte, Sprints, Windkantengefahr & Teamzeitfahren

(rsn) – Nachdem die Spanien-Rundfahrt im vergangenen Jahr von Torrevieja an der Costa Blanca vorbei an Madrid in den Norden nach Asturien an den Atlantik und zur abschließenden Bergankunft an den L

25.04.2024Zwölf deutsche Profis auf vorläufiger Startliste des Giro d´Italia

(rsn) – Insgesamt zwölf deutsche Profis werden nach aktuellem Stand am 4. Mai den 107. Giro d’Italia in Angriff nehmen, wie aus der vom Veranstalter RCS Sport veröffentlichten vorläufigen Start

25.04.202422 Teams am Start der 3. Tour de France Femmes

(rsn) – Mit insgesamt 22 Teams wird am 12. August im niederländischen Rotterdam die 3. Tour de France Femmes (2.WWT) gestartet. Beim Grand Départ dabei sein werden auch die beiden deutschen Frauen

24.04.2024Highlight-Video der 1. Etappe der Tour de Romandie

(rsn) – Der Franzose Dorian Godon (Decathlon – AG2R La Mondiale) hat sich die 1. Etappe der Tour de Romandie gesichert. Nach 165,7 Kilometern vom Château-d´Oex nach Fribourg, wobei sechs Bergwer

RADRENNEN HEUTE

    WorldTour

  • Tour de Romandie (2.UWT, SUI)
  • Radrennen Männer

  • Presidential Cycling Tour of (2.Pro, TUR)
  • Gracia Orlová (2.2, CZE)
  • Tour de Bretagne (2.2, FRA)
  • Tour of the Gila (2.2, USA)