Guadeloupe-Tagebuch von Hermann Keller

Es ging zu wie beim Bahnrennen hinter dem Derny

Von Hermann Keller

Foto zu dem Text "Es ging zu wie beim Bahnrennen hinter dem Derny"
Hermann Keller (Embrace the World, li) und seine Teamkollegen bei der Tour de Guadeloupe| Foto: Embrace the World

07.08.2019  |  (rsn) - Willkommen zum Eintrag über die 4. Etappe der Tour der Guadeloupe. Schon beim Aufstehen war die Stimmung in unserem "Zimmer der Schwergewichte" etwas betrübt, so wussten wir alle um die vier Bergwertungen innerhalb der ersten 27Km. Nach einem ausgiebigen Frühstück und der Taktikbesprechung ging es auf das Zimmer zum Packen für den Transport.

Die Taktik für unser Zimmer: fahren, möglichst spät abgehängt werden und im Zeitlimit ins Ziel kommen. Klingt einfach, aber das täuscht. Gestern hat beispielsweise das Matrix Team zwei Sportfreunde an das Zeitlimit verloren. Bei der Taktik für das andere Zimmer habe ich nicht ganz zugehört, habe aber irgendwelche verwirrenden Gesprächsfetzen wie "Attacke, Spitzengruppe, zurückhalten,..." aufgeschnappt.

Ich ließ mich davon aber nicht beirren und stellte mich wild entschlossen, zumindest über die erste Bergwertung im Feld zu kommen, an den Start. Gerade als der Sprecher den Countdown anzählen will, marschiert der Wingman (Simon Wingen) zielstrebig an allen vorbei zum neutralen Materialwagen. Seine Schaltung hat versagt und er startete das Rennen dann auf der Leihgabe der Veranstalter. Als auch diese Schwierigkeiten behoben waren, ging es direkt los.

Ich setzte mich direkt an die Spitze des Feldes, um ein Tempo anzuschlagen, das zwar schnell war, aber mich nicht direkt abplatzen lassen würde. Dies klappte auch sehr gut, bis die Kollegen mit Ambitionen für die Bergwertung (ich habe das Trikot mittlerweile abgeschrieben) lossprinteten. Ich verlor Position um Position, konnte mich zwar noch im Feld über die 2. Bergwertung retten, dann war aber schon Feierabend.

Gerade als ich überlegte, ob ich in der Abfahrt viel Risiko gehen soll um nochmals zurückzukommen, sah ich einen Matrix-Fahrer wieder aufstehen. Somit war klar: Matrix war nur noch zu zweit im Rennen und ich gehe kein Risiko.

Im Grupetto führten einige Fahrer am Berg sehr intensive Gespräche mit ihren Betreuern an den Türklinken... Äußerst langwierige Diskussionen!

Zur selben Zeit, allerdings ein paar Kilometer weiter vorne hielten sich Basti und Freddy in der ersten Gruppe und Marcel feierte nach kurzer Abstinenz, da er dem Tempo über die Berge nicht ganz folgen konnte, sein Comeback im Feld. Für ihn ging es direkt weiter in die Führung und irgendwie verirrte er sich schon wieder in die Spitzengruppe. Vorne war also das Rennen in vollem Gange, während es hinten kurze Zeit total nebensächlich wurde.

Als wir zur Abwechslung mal wieder an einen Hügel kamen, stand dort mein amerikanischer Grupettofreund der letzten beiden Tage tief über seinen Lenker gebeugt und atmete sehr schwer. Gerade als wir auf seiner Höhe waren, kippte er vom Rad. Ein Zuschauer fing ihn auf, ich hielt an und gemeinsam packten wir ihn in den Schatten unter einen Baum. Wir nahmen ihm den Helm ab und bespritzen sein Gesicht und Kopf mit Wasser und er kam wieder zu sich. Wenige Sekunden später war Andrea schon aus ihrem Auto gesprungen und schickte mich wieder weiter. Sie sorgte dafür, dass ein Krankenwagen kam und dass sich um ihn gekümmert werden würde. Ihm geht's wieder gut, denn er sitzt vor mir im Bus, kann sich aber nicht an die Situation erinnern. Es muss wohl ein Hitzschlag und völlige Dehydration gewesen sein.

Ich erreichte wieder das Grupetto und das Rennen ging weiter. Plötzlich wunderte ich mich, weshalb wir mit knapp 50km/h auf leicht ansteigender Straße unterwegs waren und meine Beine so schmerzten. Der Grund war schnell gefunden... einem Motorradfahrer, der eigentlich zur Sicherung der Strecke bei uns bleiben sollte, ging es wohl nicht schnell genug und er setzte sich an die Spitze unserer Gruppe und es ging auf einmal zu wie bei einem Bahnrennen hinter dem Derny. Wir holten nach wenigen Minuten das vor uns fahrende Gruppeto um Duffi ein. Als auch dann das Motorpacing nicht aufhörte, erklärte Simon dem Motorradfahrer, dass das bei Fahrradrennen (zumindest in Europa) nicht ganz so üblich ist. Wir machten uns mit dieser Aktion nicht viele Freunde.

Generell macht das Fahren im Grupetto hier keinen Spaß, da am Berg immer wieder wilde Attacken geritten werden, auf der Ebene streitet sich dann aber niemand um die Führungsarbeit.

Marcel war nicht wirklich begeistert von seiner Anwesenheit in der Spitzengruppe, da es von vornherein eigentlich gar nicht sein Plan gewesen war, an die Front zu gehen. Die letzten Tage und vor allem die bereits geleistete Führungsarbeit für den Capitano hatten ihn einfach schon zu viel Energie gekostet, weswegen er auch den Rest der Gruppe am letzten Anstieg ziehen lassen musste. Die Zuschauer am Berg wurden aber für die fehlende Action entschädigt, denn ein Sportfreund vom Dauner Team büxte nur ca. 20min später aus und zauberte ein Solo aus dem Hut. Leider reichte es für ihr nicht ganz zum Ziel und so holte ihn das Gruppetto wenige Kilometer vor dem Ziel wieder ein.

Im Ziel angekommen wurden wir direkt vom unserem sagenhaften Staff abgeholt, zum Auto gebracht und mit Proteinshakes versorgt. Sie haben sich dann noch darum gekümmert, dass die Räder in den Transporter kommen. Nach dem Essen geht's dann mit dem Bus (in welchem ich diese Zeilen gerade noch schreibe) zurück ins Hotel. Während wir Fahrer uns einfach nur noch auf das Abendessen freuen, arbeiten die Betreuer noch bis spät am Abend, um für uns das Ganze hier möglich zu machen. Dafür auf jeden Fall Mal ein großes Dankeschön (in der Hoffnung ihr habt bis hier unten gelesen) vom Team.

Ich gehe jetzt erstmal an den Strand und wünsche eine gute Nacht, bis morgen!

Hermann

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